Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
ihn fast zehn Monate
lang getragen, und danach konnte sie nicht mehr schwanger werden. So als hätte
er gewusst, dass sie mit ihm mehr als genug beschäftigt wäre, dass er ihre
ganze Aufmerksamkeit brauchen würde. Wenn sie sich die Hügel und die weichen
Wiesen und die Himmelsklarheit ansah, wirkte das jetzt alles feindlich, kalt,
nur Illusion, das Land hatte ihr immer Ruhe geschenkt, war ihr wie ein
untrennbarer Teil von ihr erschienen, aber jetzt erkannte sie, wie unwirklich
dieses Gefühl war. Diese Dinge änderten sich nie, sie wussten nichts von Liebe
oder Leiden.
    Doch sie unternahm nichts. Sie war nicht mal sicher, was Bud Harris
plante. Nein, sie wusste es. Der Mann, der ehemalige Automechaniker, hatte
schon mal versucht, ihren Sohn umzubringen, und jetzt unternahm er noch einen
Versuch. Selbst das, dachte sie, ist nur eine Lüge, die du dir hier einredest,
in Wahrheit hast du keine Ahnung, was der Mann getan hat oder wasdein Sohn
getan hat, aber trotzdem musst du dich entscheiden, schuldig oder unschuldig,
das zählt nicht mehr. Das kann doch alles nicht wahr sein.
    Eins aber wünschte sie sich: dass Bud Harris jetzt da draußen wäre
und diesen Mann umbrächte. Das wollte sie. Sie wollte den Tod dieses Mannes,
den sie nur deswegen kannte, weil er ihren Sohn bei einer Tat gesehen hatte.
Oder weil er ihrem Sohn eine Tat anhängte. Sie wollte den Tod dieses Mannes, so
dass ihr Sohn leben konnte. Und das war die Wahrheit. Jede Mutter würde das
wollen, das wusste sie. Jeder Mensch, der in deiner Lage wäre, würde ganz genau
das wollen.
    Nein, ich hab ihm nichts gesagt, ich hab Bud Harris das nicht geradeheraus
gesagt. Er wird schon seine eigenen Entscheidungen treffen. Bloß dass es auch
gelogen war, das zu vermuten. Weil sie gar nichts hatte sagen müssen. Beide
hatten es gewusst. Sie wussten es auch jetzt. Sollte Bud Harris diesem Mann was
antun, ist das so, als hättest du es selbst getan. Du kannst das keinem anderen
in die Schuhe schieben. Es gibt da Indizien, die du bewusst ignorierst – dieser
Mann ist immerhin zur Polizei gegangen, dein Sohn nicht. Aber Indizien ändern
nichts an der Wahrheit. Was müsste denn Billy getan haben, damit du das nicht
mehr willst?
    Du bist am Ende, sagte sie laut. Alle werden es erfahren. Letzte
Woche hatte Cultrap von der Farm am anderen Ende ihrer Straße sie unverwandt
angestarrt, als sie an ihm vorbei fuhr, aber nicht gewunken, dabei kannte sie
Ed Cultrap zwanzig Jahre. Das war wegen Billy, weil er diesen Mann getötet
hatte. Andere Leute waren schon bereit, dir deine Kinder zu verzeihen, aber das
hier war zu viel.
    Nein, die Verständigung zwischen Harris und ihr war so klar gewesen,
als hätten sie es ausgesprochen. Und so klar würde es auch für jeden anderen
sein. Aus der Stadt vertreiben würden sie sie oder schlimmer, als Bud Harris
Billy letztes Mal aus dem Schlamassel holte, wussten es auch alle gleich,
obwohl es ganzim Stillen bleiben sollte, aber irgendwie sprach es sich doch
herum. Und das hier erst – sie konnte es sich nicht mal vorstellen. Mir doch
egal, dachte sie. Hauptsache, es trifft mich und nicht ihn.

2 . Isaac
    Es war schon lange dunkel, und er war den ganzen Tag von Little
Washington nach Speers marschiert, fast dreißig Kilometer. Und von Speers bis
nach Buell waren es nur noch dreizehn.
    Er stand auf der Brücke der I - 70 und schaute ein paar Minuten lang über den Mon, dann
stieg er runter zu den Bahngleisen. Unter dem Highway hockte eine Gruppe
Teenager, und einer davon wollte einen Spruch ablassen, als er Isaac
vorbeikommen sah. Doch dann hatte Isaac ihn offenbar entsprechend angesehen,
und schnell waren sie verstummt. Als er vorbei war, fiel ihm ein, dass sie sein
Jagdmesser gesehen haben mussten.
    Und kaum außer Sicht, nahm er das Messer ab und warf es umstandslos
ins Wasser. So sagt sich der Kleine von den schlechten Gewohnheiten los. Wenn
er sich nicht entscheidet, wird für ihn entschieden. Schau ihn an, beim Gehen,
er beschließt, dass er den einen Fuß nur immer vor den anderen setzt; es
geschieht. Denk drüber nach. Oder Lees Katze, wie sie immer Bleistifte von
deinem Schreibtisch schubste. Und warum? Um sich zu vergewissern, dass sie’s
konnte. Weil ein Teil von ihr – der älteste Teil – wusste, eines Tages würde
sie es nicht mehr können. Lerne was daraus, dachte er. Jeden Morgen wachst du
unwissend auf. Nicht vergessen, du befindest dich im Land der Lebenden.
    Er setzte seinen Weg in Richtung Süden fort. Die Gleise
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher