Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition)
Autoren: M. Agejew
Vom Netzwerk:
wären sie nie gestorben; damals wie heute befangen in kleinlichem Stolz, Neid und Feindseligkeit, seien sie in die heutige Zeit eingetreten.
    Es war schon nicht mehr die Stein’sche putzige Spielzeugvergangenheit, die mit der heutigen Lokomotive und Elektrizität kleingeredet wurde, denn die von Burkewitz so kraftvoll vorgeführte Vergangenheit nahm deutliche Züge unserer heutigen Zeit an. Aber dann schwenkte Burkewitz wieder zu den geschichtlichen Ereignissen zurück, streute wieder Details aus dem Leben ein, führte sie zusammen mit Charakter und Taten einzelner Persönlichkeiten und schlug beharrlich und sicher die Kurve in die angepeilte Richtung ein. Der Bogen seines Vortrags führte nach vielen einprägsamen Vergleichen, weit weg von jeder Behauptung und darum von umso größerer Überzeugungskraft, zu einer Schlussfolgerung, die er nicht selbst zog, sondern uns überließ, und die darin bestand, dass in der Vergangenheit, der längst entrückten Vergangenheit, jene empörende und spottende Ungerechtigkeit nicht unbemerkt, nicht ungesehen bleiben durfte: wie wenig nämlich die Vorzüge und Mängel der Menschen damit zu tun hätten, ob sie sich in Zobel hüllten oder in Lumpen. So in der Vergangenheit; auf die Gegenwart spielte er nicht einmal an, als schiene er genau zu wissen, wie gut, wie gründlich bekannt uns diese empörende Unverhältnismäßigkeit unserer Zeit war. Und das Netz war schon gesponnen: Auf seinen verworrenen, stählernen und unzerstörbaren Drähten, auf denen wir alle sicheren Fußes gingen, war es unmöglich, Burkewitz nicht zu folgen; wir kamen zu der unerschütterlichen Einsicht, dass, wie früher in Zeiten des Pferdefuhrwerks, so auch heute in Zeiten der Dampflokomotive, das Leben für den dummen Menschen leichter ist als für den klugen, für den Gerissenen besser als für den Ehrlichen, für den Gierigen üppiger als für den Gutmütigen, für den Grausamen angenehmer als für den Schwachen, für den Herrischen prächtiger als für den Bescheidenen, für den Verlogenen ergiebiger als für den Frommen und für den Wollüstigen süßer als für den Enthaltsamen. Dass dem so wäre und ewig so sein würde, solange es auf der Erde Menschen gäbe.
    Die Klasse hielt den Atem an. Im Raum waren fast dreißig Leute, und doch hörte ich sehr genau, wie in der Tasche des Sitznachbarn die Uhr schnalzend tickte, die zu tragen von der Schulleitung untersagt war. Der Geschichtslehrer saß auf seinem Podest, den Blick unter den roten Wimpern in das Klassenbuch vertieft, legte hin und wieder die Stirn in Falten und strich sich mit der flachen Hand den Bart, als wollte er sagen: «So ein gerissener Bengel .»
    Burkewitz beendete seinen Vortrag damit, dass er jene Seuche, die sich über viele Jahrhunderte ausgebreitet und sich nach und nach in der menschlichen Gesellschaft eingenistet hatte und die schließlich, jetzt, in der Zeit des technischen Fortschritts, die Menschen allenthalben infiziert hatte, beim Namen nannte: die Abgeschmacktheit, die sich darin äußere, wie der Mensch allem, was er nicht verstehe, mit Verachtung zu begegnen wisse. Und je größer die Nutzlosigkeit und Nichtigkeit der Dinge, auf die der Mensch seine Leidenschaft verwende, desto größer die Abgeschmacktheit.
    Wir verstanden. Es war ein treffsicherer Schlag in Steins Visage, die gerade in diesem Moment angestrengt nach irgendetwas unter der Bank suchte, wohl wissend, dass jetzt alle Augen auf ihn gerichtet waren.
    Wir begriffen aber nicht nur, wem der Schlag galt, sondern auch, dass diese, wie es scheinen wollte, hoffnungslose und über die Jahrhunderte eingeschliffene Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, von der Burkewitz in Andeutungen gesprochen hatte, ihn selbst nicht im Geringsten verzagen ließ oder wütend machte, vielmehr war sie jener wie eigens für ihn geschaffene Brennstoff, der ihn von innen nährte und zu keiner Explosion führte, sondern gleichmäßig, zwar ruhig, aber heiß in ihm brannte. Wir sahen auf seine Füße mit den abgetragenen, ungeputzten Stiefeln, auf die durchgewetzten Hosen mit den unförmig ausgebeulten Knien, auf seine wie Kugeln ausgegossenen Wangenknochen, auf seine winzigen grauen Augen und seine knochige Stirn unter dem schokoladenbraunen Schopf, und wir fühlten, überdeutlich und scharf, wie in ihm diese schreckliche russische Kraft gärte und dampfte, die weder Schranken noch Grenzen kennt, eine einsame Kraft, düster und stählern.

6
    Dieser Krieg zwischen Burkewitz,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher