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Rolandsrache

Rolandsrache

Titel: Rolandsrache
Autoren: Kirsten Riedt
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beiden Töchtern gekommen, die sich in ihrem Haus einquartierten und es mit ungewohntem Leben erfüllten. Anna hatte kaum mehr eine Minute für sich, denn selbst ihre Kammer musste sie mit den zwei jüngeren Basen Adelheid und Maria teilen. Die beiden schnatterten und kicherten unentwegt, ließen sie aber zu ihrer Erleichterung weitestgehend in Ruhe. Sie fühlte sich bald durch deren Anwesenheit erdrückt und schämte sich für ihre Empfindungen. Annas einziger Wunsch, gemeinsam mit ihrer Mutter zu weinen und über ihren Vater zu reden, blieb ihr daher versagt, und sie war mit ihrem Schmerz allein.
    Als ihre Tante Eva meinte, dass Annas Mutter dem Wahnsinn verfallen sei, widersprach Mechthild ihr und sagte, dass es bald vorbeigehen würde. Manche Dinge bräuchten einfach Zeit. Aus diesem Grund kam sie täglich vorbei, verabreichte ihrer Mutter eine Medizin, die sie schläfrig machte, und versuchte, mit ihr über den Tod ihres Mannes zu sprechen. Aufbrausend jagte ihre Mutter sie dann aus dem Haus und nannte sie eine schmutzige Lügnerin. Doch Mechthild ließ sich nicht beirren und wiederholte die Prozedur täglich.
    Nachbarn und Zunftgenossen besuchten sie, brachten Gaben und drückten ihr Bedauern aus, sodass die vielen Menschen sich bald gegenseitig im Weg herumstanden.
    Selbst Frau Zellheyer, die Mutter von Claas, reiste an, quartierte sich in seiner Hütte ein und half ihnen im Haus, so gut sie konnte. Manchmal, wenn Anna verloren in einer Ecke saß, nahm Claas’ Mutter sie in den Arm und versicherte, dass die schlimme Zeit bald einer guten weichen würde. Sie war Anna in dieser Zeit der größte Halt. Claas jedoch ließ sich seit dem Tag des Überfalls nicht mehr im Haus sehen, und er fehlte ihr viel mehr, als sie gedacht hätte, doch sie wagte es nicht, nach ihm zu fragen.
    Um den Vater für die Bestattung zurechtmachen zu können, mussten sie warten, bis ihre Mutter schlief, und selbst die Totenwache gestaltete sich als schwierig, solange sie wach war. Am zweiten Morgen nach seinem Tod suchten sie und ihre Tante die besten Kleider des Vaters heraus und betraten das Totenzimmer. Ihnen schlug ein süßlicher, rauer Geruch entgegen, den Anna mit nichts vergleichen konnte, was sie kannte. Sofort heftete sich ihr Blick auf ihren Vater, der beinahe aussah, als würde er schlafen, doch seine Brust hob und senkte sich nicht, und seine Züge waren wie versteinert.
    Ihre Tante nahm einige Talglichter aus einem Korb, stellte sie um das Bett herum auf und zündete sie an. »Komm und hilf mir, wir müssen ihm die Kleider ausziehen.«
    Anna stand wie angewurzelt auf der Stelle. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, ihn zu berühren, nun, da kein Leben mehr in ihm war, und eisige Angst breitete sich in ihrem Inneren aus.
    »Anna, komm!« Ihre Tante hatte bereits einen Arm des Toten ergriffen und wartete auf sie. Nur langsam bewegten sich Annas Beine zum Bett, und sie glaubte, nicht mehr atmen zu können.
    »Ich weiß, dass es schwer ist, aber ich kann es nicht allein machen.« Ihr Ton war nun sanfter, doch nach wie vor dringlich.
    Stumm nickte Anna und griff nach einer Hand, von der keine Wärme mehr ausging und die sich seltsam ledrig und kühl anfühlte. Erschrocken zuckte sie zurück, als hätte sie etwas Verbotenes berührt, und ein leiser Schrei kam über ihre Lippen. Sein Arm fiel schlaff auf die Decke zurück.
    Auch ihre Tante ließ den Arm des Vaters wieder sinken und seufzte laut. »Ich hätte dich nicht bitten sollen, mir dabei zu helfen. Geh hinaus und schicke Adelheid zu mir.«
    Dankbar verließ Anna das Zimmer, doch der Geruch folgte ihr an diesem Tag, wohin sie auch ging.
    Am nächsten Tag beschloss sie, nach dem Mittag zur Werkstatt zu gehen. Einerseits fürchtete sie sich davor, denn zu frisch war die Erinnerung, als ihr Vater dort seine Scherze mit ihr getrieben hatte. Doch sie wollte wissen, was zu Schaden gekommen war. Die Knie von Johann Hemeling fielen ihr wieder ein, und sie musste trotz aller Traurigkeit lächeln.
    Sie warf einen Blick aus dem kleinen Fenster. Draußen tobte ein Herbststurm mit Regen und Hagel, doch alles war besser, als im Haus herumzusitzen und eine gute Miene zu machen. Anna legte sich den Wollumhang über die Schulter und schlich hinaus. Sofort peitschten ihr dicke Tropfen ins Gesicht; fröstelnd zog sie den Kragen enger.
    Erleichtert, der drückenden Stimmung entkommen zu sein, atmete sie zweimal tief durch. Es roch bereits nach Schnee, und der Sturm trieb die
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