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Rolandsrache

Rolandsrache

Titel: Rolandsrache
Autoren: Kirsten Riedt
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wollte sie sich nicht geschlagen geben.
    »So, wer wird es denn?« Claas, der Geselle ihres Vaters, grinste breit und biss herzhaft in die Pastete, die Anna ihnen gebracht hatte.
    »Wer nicht den Ratsherren Johann Hemeling erkennt, der muss mit Blindheit gestraft sein. Allein die Locken und die Mundwinkel sind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
    Ihr Vater warf Claas einen verschwörerischen Blick zu, der Anna jedoch nicht entging.
    »Warum macht ihr so einen Hehl daraus und tut so geheimnisvoll?«
    »Weil ihr Klappermäuler nicht den Mund halten könnt.«
    Die Antwort ihres Vaters traf sie, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen. So hatte er sie noch nie genannt. Er musste doch wissen, dass sie nicht tratschte.
    Die beiden Männer genossen ungerührt die Pastete ihrer Mutter und machten nicht den Eindruck, als ob sie ihr antworten wollten. Verlegen schob sie die Ärmel ihres Kleides nach oben und ließ neugierig ihren Blick durch die Werkstatt wandern, hoffte, eine Zeichnung, die als Vorlage für diese Arbeit diente, zu entdecken, aber es war nichts zu sehen.
    Überall lagen zusammengefegte Bruchsteinhaufen, Steinstücke und Werkzeuge herum. In dem gesamten ehemaligen Lager standen halbfertige Arbeiten und unbehauene Steinquader verteilt. Anna erhob sich und bahnte sich einen Weg durch die unterschiedlich großen Blöcke. Jeder ihrer Schritte knirschte unangenehm laut und hinterließ in der Staubschicht, die hier über allem und jedem lag, ihre Fußabdrücke.
    Normalerweise arbeiteten Bildhauer und Steinmetze im Halbfreien, nur von einem Holzdach vor Regen geschützt, und so tat es auch ihr Vater, seit sie denken konnte, doch dieses Mal war es anders. Er und Claas ließen seit einem Jahr nur noch selten das Tor offen stehen, meistens verriegelten sie es sogar von innen, und sie musste klopfen, wenn sie die Mahlzeiten brachte. Selbst in der brütenden Sommerhitze hatten sie die Halle nicht verlassen. Auf die Frage, warum sie es taten, bekam sie keine oder nur ausweichende Antworten.
    Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Claas’ Augen ihr folgten, und das Kribbeln, das sie in seiner Anwesenheit seit Monaten verspürte, wurde stärker. Es fiel ihr schwer, dem Verlangen nachzugeben, sich in den Bauch zu kneifen, damit es aufhörte. Energisch schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den Weg, auf dem man leicht über verstreute, zum Teil abgewetzte Werkzeuge wie Knüpfel, Klöppel, Beizeisen, Krönel und über Steinbruchstücke stolpern konnte.
    Anna besah sich neugierig die angefangenen Arbeiten und erkannte neben dem Kopf bereits Arme, Rumpf und Füße. Andere Blöcke waren nur angerissen, manche noch unberührt. Aber alle Körperteile waren mehrfach so groß wie die eines Menschen. Vor einem riesigen Paar Beinen blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die angedeuteten Schenkel wandern, über die Knie, aus denen spitze Metallstifte vorwitzig hervortraten, und schließlich zu den Waden und Füßen, die bisher nur zu erahnen waren. Bei den Kniespitzen fiel ihr etwas auf. Ein Grinsen zuckte um ihren Mund, denn sie konnte kaum glauben, was ihr geübtes Auge sofort sah. Wie ihr früherer Hauslehrer setzte sie einen wissenden Gesichtsausdruck auf, hob das Kinn leicht an, stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich zu den beiden um.
    »Wer war das? Diese Kniespitzen sind ganz schief!« Mit dem Zeigefinger deutete sie darauf.
    Ihr Vater sah rechts und links an ihr vorbei. »Wer hat dieses Marktweib hereingelassen, und wo ist meine Tochter hin?« Mit gespieltem Entsetzen sah er sich um.
    »Ich bin kein Marktweib!«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und vorgeschobener Unterlippe.
    »Dem Herrn sei Dank, da bist du ja wieder.« Er lächelte zänkisch.
    »Die Kniespitzen sind genau da, wo sie hingehören.« Claas grinste ebenfalls.
    »Dann hat Ratsherr Hemeling aber sehr drollige Knie!« Sie reckte das Kinn nach vorn und zog eine Augenbraue nach oben.
    »Vielleicht geht er deswegen so seltsam?« Lächelnd stieß ihr Vater Claas in die Rippen, worauf dieser betont mit den Schultern zuckte.
    »Ach ihr.« Wütend stampfte sie zurück und rutschte beinahe auf den kleinen Steinen aus, die den beiden Männern in ihren dicken Holzschuhen nichts ausmachten. »Ich bekomme euer Geheimnis schon noch heraus!«
    Demonstrativ sah ihr Vater an die Decke und faltete die Hände zum Gebet. »Herrgott, bewahre uns vor der Neugier der Weiber.«
    Claas schüttelte lachend den Kopf. »Amen!«
    »Ich wünschte, sie
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