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Ritus

Ritus

Titel: Ritus
Autoren: Markus Heitz
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Pierre wohl losgelassen. Gregoria stürzte wie ein Stein in die Tiefe, Jean fing sie auf. Sie fielen beide ins Gras des Gartens.
    »Pierre!«, brüllte er fassungslos, seine Stimme klang nicht mehr menschlich. »PIERRE!«
    Jean kämpfte sich auf die Füße, langte nach dem Seil, schickte sich an, daran in die Höhe zu steigen und den Sohn eigenhändig zu retten.
    Doch bevor er den Aufstieg beginnen konnte, riss das Seil.
    Das glimmende Ende kam einer erschlagenen Schlange gleich heruntergefallen.
    »Nein!«
    Regungslos hielt Jean Chastel das andere, nutzlos gewordene Ende in den Händen. Dörfler sprangen herbei, packten die Äbtissin und ihn und zerrten sie beide weg von der Stelle, an der wenige Augenblicke später kokelnde Balken auftrafen und Löcher in die Erde schlugen. Der Wildhüter und die Äbtissin wurden vor die Mauern des Klosters gebracht und auf die Wiese gebettet. Mehr vermochte man vorerst nicht für sie tun.
    Die letzten Helfer zogen sich aus der Anlage zurück; sie hatten eingesehen, dass es zwecklos war, gegen die Flammen anzukämpfen, in denen nun selbst der felsenfeste Glockenturm versank.
    Aus dem Rauch, der vom Feuer beleuchtet wurde, formten sich in Jeans Vorstellungskraft die Gesichter von Pierre und Florence. Stöhnend barg er sein Gesicht zwischen den Händen. Er hatte einen weiteren Sohn verloren, und der Schmerz über den Verlust war so gewaltig, dass ihm die Tränen versiegten.
    Mit versteinerter Miene wandte er sich an Gregoria. »Wie ist das Feuer ausgebrochen? Hat der Jesuit …«
    Sie suchte seine Hand. »Angriff«, stöhnte sie, schluckte und sammelte Kräfte für ein weiteres Wort, aber jemand kam ihr zuvor.
    »Es war der Angriff des zweiten Loup-Garou, Monsieur Chastel«, sagte einer der Dörfler, der in ihrer Nähe stand. »Der junge Truibas hat etwas vom Kloster wegschleichen sehen, das aussah wie eine Mischung aus Mensch und Tier. Es ist seine Rache, weil wir die andere Bestie endlich erlegt haben. Jetzt reicht es ihr nicht mehr, Menschen zu töten! Sie zündet unsere Häuser an und verhöhnt Gott den Allmächtigen.«
    Jean erstarrte. Es blieb ihm nichts mehr von seinen Söhnen als die Erinnerung an bessere Tage. Die Wandelwesen trugen Schuld an allem, was geschehen war. Sie hatten ihm seine Söhne genommen. Beide Söhne.
    »Bei Gott«, sprach er düster. »Ich schwöre, dass ich von heute an mein Leben einzig der Jagd auf diese Kreaturen widme. Nichts wird mich aufhalten, sie auszurotten!« Er unterdrückte das Verlangen, Gregoria vor aller Augen zu küssen, und beschränkte sich auf einen langen, tiefen Blick voller Liebe. »Verzeih mir, dass ich dich allein lasse, doch ich will der Spur der Bestie folgen, solange sie frisch ist. Wer auch immer sich hinter ihrer Maske verbirgt, er wird sterben.« Er nahm seine Muskete und verschwand.
    »Nein! Jean! Es …« Ihre vom Rauch angegriffene Stimme brach. Sie versuchte, ihn festzuhalten, aber ihre Finger glitten von seinem Hemd ab. Sie musste ihn ziehen lassen.
    »Seid unbesorgt, ehrwürdige Äbtissin. Er ist ein Held.« Eine Frau kniete sich neben sie und begann, ihr Gesicht im Fackelschein mit einem nassen Tuch von Schmutz und verkrustetem Blut zu befreien. »Er hat die erste Bestie getötet, vor den Augen des Marquis und der anderen.«
    Als sie Gregoria half, sich aufzurichten, um Wasser zu trinken, fiel die Phiole auf den Boden. »Ihr habt etwas verloren, ehrwürdige Äbtissin.« Die Frau reichte ihr das Fläschchen.
    Die Schmerzen, welche sie verspürte, wuchsen mit jedem Lidschlag. Wenn der Inhalt Legatus Francesco seine enormen Kräfte verlieh und ihn davor bewahrte, ein Loup-Garou zu werden, würde er sicherlich auch gegen ihre Qualen helfen.
    Gregoria ließ sich den kleinen Behälter öffnen. Zitternd tunkte sie den Finger hinein und spürte etwas Feuchtes. Es war nicht mehr viel in der Phiole, es genügte gerade, um die Kuppe zu benetzen. Sie schmierte es auf die Lippen, wie es der Legatus getan hatte, und leckte es mit der Zunge ab.
    Es schmeckte metallisch.
    Blut! Heilige Maria Mutter Gottes, ich habe Blut gekostet!
    Sie sammelte Speichel, um es auszuspucken, aber da geschah es schon. Um sie herum wurde es leuchtend hell.
    Sie wurde in ein funkelndes Strahlen gehüllt, das direkt aus dem Himmel kam, ein überirdisches Leuchten, das nur von Gott dem Allmächtigen selbst gesandt sein konnte. An ihre Ohren drang fröhliches Gelächter von kleinen Kindern, sie hörte Harfen und roch den Duft süßer Blumen. »Ich ziehe ins
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