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Ritus

Ritus

Titel: Ritus
Autoren: Markus Heitz
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Gesicht und geballten Fäusten auf dem Platz, dem einzigen Ort, an dem es nicht brannte, und schrie seinen Kummer laut heraus.
    Da erklang die Kirchenglocke. Sie schlug ein einziges Mal.
    Jean verstand das Signal. »Rasch, es hat sich jemand in den Turm retten können!« Er rief einige Bauern mit Wassereimern zu sich und goss das Nass über sich. Die getränkte Kleidung würde der Hitze besser Stand halten. Pierre tat es ihm nach.
    Nun kam es den beiden entgegen, dass sich Pierre des Öfteren auf dem Gelände aufgehalten hatte. Er führte sie auf dem kürzesten Weg zum Turm, doch bis zur Tür waren es viele Schritte durch eine brennende, in sich zusammenstürzende Kirche. Vater und Sohn zögerten nicht. Beide trugen in ihren Herzen die Zuversicht, dass Gregoria und Florence im Turm auf Beistand warteten. Auf ihren Beistand.
    Hustend und keuchend liefen sie durch das zerstörte Gotteshaus, wichen Balken und herabfallenden Steinquadern aus, bis sie vor der Tür ankamen. Davor stapelte sich der Schutt, und das erklärte, weshalb die Eingeschlossenen nicht selbst versucht hatten, hier zu entkommen. Die Männer rissen Stoffstreifen aus ihren nassen Röcken und wickelten sie um die Hände, um sich vor Verbrennungen zu schützen, und räumten die Halde in rasendem Tempo zur Seite, immer darauf achtend, was die sterbende Kirche nach ihnen schleuderte.
    Endlich hatten sie den Eingang so weit freigeräumt, wie es eben nötig war. Jean rammte die durch die Hitze verzogene Tür mit der Schulter auf und fiel ins Innere, Pierre sprang über ihn hinweg und schaute sich suchend um. »Florence, bist du hier?« Er entdeckte eine am Boden kauernde Gestalt in einer schwarzen Tunika und wusste, dass es nicht seine Geliebte war.
    Jean stemmte sich in die Höhe, lief zu der Frau, drehte sie um und wischte ihr den Ruß vom Gesicht. »Gregoria«, rief er erleichtert. Sie hatte außer der Platzwunde schwere Verbrennungen im Gesicht und an den Armen, ihr Gewand war größtenteils verkohlt, ihre Haut hatte unter den Flammen schwer gelitten, war rot geworden und nässte. »Ist Florence bei dir? Im Stockwerk darüber?«
    Sie schüttelte schwach ihren Kopf und klammerte sich an seinen Hals wie ein kleines Kind, die Stimme versagte ihr. Jean hob sie hoch, ging zum Ausgang und verharrte. Vor ihm wütete ein Flammenmeer in den Überresten der Kirche. »Das schaffen wir niemals.«
    »Doch, Vater.« Pierre deutete mit Tränen im Gesicht auf das Glockenseil. »Wir steigen nach oben und seilen uns damit auf der Außenseite ab.« Er nahm sich das untere Ende, lief die Stufen hinauf und zog das Seil mit sich, Jean trug die Äbtissin hinterher, und bald gelangten sie auf die Spitze des Glockenturms. Funkenflug hatte das Gebälk in Brand gesetzt, das Holz knirschte bedenklich.
    Pierre warf das Seil aus einem der schmalen Fenster. »Du zuerst«, sagte er zu seinem Vater, sein Gesicht war kaum mehr als eine ausdruckslose Maske. Die Gewissheit über Florences Tod raubte ihm jegliches Gefühl, Angst und Schmerzen gleichermaßen. »Ich binde ihr das Seil um den Leib und lasse sie langsam runter. Du sorgst dafür, dass sie weich unten ankommt.«
    Der Ausdruck in den braunen Augen seines Sohnes verhinderte, dass Jean widersprach. Schnell kletterte er hinab bis auf den Erdboden, zerrte kurz an dem Seil, und Pierre zog es hinauf.
    Lange Zeit tat sich nichts.
    Der Wildhüter sah und hörte, wie die letzten Reste Saint Grégoires in sich zusammenbrachen. Selbst aus den kleinen Treppenfenstern quoll dichter Rauch, das Feuer fraß sich von unten in die Höhe, um sich mit den Flammen unter dem Dach zu vereinigen.
    »Achtung!«, rief es von oben. Jean sah, wie Gregoria vorsichtig durch das Fenster geschoben wurde. Langsam seilte Pierre sie nach unten ab.
    Nachdem sie die Hälfte der Strecke absolviert hatte, rumpelte es, und der Dachstuhl sackte zur Hälfte ein. Eine riesige Lohe schnellte dunkel zischend in den Himmel, kleinere Flammen züngelten aus allen Öffnungen des Glockenturms. Jean vernahm den Schrei seines Sohnes, dessen Kleider unweigerlich Feuer gefangen hatten, doch er ließ das Seil, an dem Gregoria hing, nicht los.
    »Pierre, lass sie!«, schrie Jean. »Ich fange sie. Klettere aus dem Turm, hörst du? Verschwinde von dort oben, bevor dich …«
    Das restliche Gebälk brach zusammen und schleuderte die roten und orangefarbenen Funken viele Schritte weit um sich herum. Das Seil schoss ruckelnd zwei Schritt abwärts, hielt einen Augenblick an, dann hatte es
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