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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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1993
     
    Vor langer Zeit lebte an den Ufern des Atlantik ein großer Indianerkrieger mit Namen Strong Wind. Er hatte Zauberkräfte - er konnte sich unsichtbar machen –, und so konnte er in den Lagern der Feinde umherwandern und ihre Geheimnisse stehlen. Er wohnte zusammen mit seiner Schwester in einem Zelt, das am Meer stand, umweht von einer leichten, steten Brise.
    Sein Ruf als Krieger reichte weit, und viele Mädchen hätten ihn gern geheiratet. Aber Strong Wind wollte nichts wissen von ihrem törichten, verführerischen Lächeln und von ihren falschen Beteuerungen, die einzig Richtige für ihn zu sein. Er sagte, daß er das erste Mädchen heiraten würde, das ihn abends heimkommen sah.
    Diese Prüfung hatte er ersonnen, um herauszufinden, wie ehrlich ein Mädchen war. Viele Mädchen wanderten zusammen mit seiner Schwester über den Strand, wenn die Sonne zischend im Meer versank, weil sie sein Herz ein fangen wollten. Strong Winds Schwester konnte ihn immer sehen, selbst wenn er für alle anderen unsichtbar war. Wenn ihr Bruder sich näherte, wandte sie sich an das Mädchen, dessen Augen den Horizont absuchten. »Siehst du ihn?« Und jedesmal begann das Mädchen an ihrer Seite hastig zu lügen, ja, da komme er. Strong Winds Schwester fragte dann: »Womit zieht er seinen Schlitten?« Es kamen viele Antworten: Mit dem Fell eines Karibus. Mit einem langen, knorrigen Stock. Mit einem starken Hanfseil. Strong Winds Schwester hörte die Antworten und erkannte, daß sie nur geraten waren. Und sie wußte, daß ihr Bruder dieses Mädchen, dessen Spuren sich neben ihren in den nassen Sand drückten, nicht zur Frau wählen würde.
    Im Dorf gab es einen mächtigen Häuptling, einen Witwer mit drei Töchtern. Eine war viel jünger als die beiden anderen. Ihr Gesicht war lieblich wie der erste Sommerregen; ihr sanftes Herz hätte den Schmerz der ganzen Welt lindern können. Zerfressen von Eifersucht, nutzten die älteren Schwestern ihr sanftmütiges Wesen aus. Sie versuchten von ihrer Schönheit abzulenken, indem sie ihre Kleider in Fetzen rissen, ihr das glänzende schwarze Haar abschnitten und die weiche Haut auf ihren Wangen und ihrem Hals mit glühenden Kohlen versengten. Ihrem Water erzählten sie, das Mädchen habe sich all das selbst angetan.
    Wie die anderen Mädchen im Dorf versuchten auch die beiden älteren Schwestern, Strong Wind durch die Abenddämmerung kommen zu sehen. Sie standen mit seiner Schwester am Strand, ließen die Wellen über ihre Beine spülen und warteten. Wie jedesmal fragte Strong Winds Schwester, ob sie ihn sähen, und sie logen, ja, sie sähen ihn. Die Schwester fragte, womit er seinen Schlitten ziehe, und sie antworteten, mit einem Lederriemen. Als sie in sein Zelt traten, zitterten die Eingangsklappen im Wind. Sie hofften, Strong Wind zu sehen, der sich über sein Essen beugte, aber sie sahen überhaupt nichts. Strong Wind hatte ihre Lügen gehört und blieb unsichtbar.
    Als die jüngste Tochter des Häuptlings an den Strand ging, um Strong Wind zu sehen, rieb sie sich das verbrannte Gesicht mit Erde ein, um ihre Narben zu verstecken, und flickte ihren Rock mit Baumrinde. Auf dem Weg zum Strand kam sie an anderen Mädchen vorbei, die sie auslachten und sie eine Närrin schalten.
    Aber Strong Winds Schwester wartete schon auf sie, und als die Sonne schwer am Himmel hing, nahm sie das Mädchen mit ans Wasser. Als Strong Wind seinen Schlitten näherzog, fragte seine Schwester: »Siehst du ihn?« Das Mädchen antwortete: »Nein«, und Strong Winds Schwester zitterte, weil das Mädchen die Wahrheit sagte. »Siehst du ihn jetzt?« fragte sie wieder.
    Erst antwortete das Mädchen nicht, aber ihr Gesicht war dem Himmel zugewandt, und ihre Augen leuchteten wie Feuer. »O ja«, hauchte sie schließlich. »Und er ist wunderbar. Er tanzt auf den Wolken und trägt den Mond auf seiner Schulter.«
    Strong Winds Schwester schaute sie an. »Womit zieht er seinen Schlitten?«
    »Mit dem Regenbogen.«
    Auch sie schaute jetzt in den Himmel. » Und aus was ist seine Bogensehne gemacht?« Das Mädchen lächelte, und die Nacht wusch über ihr Gesicht.
    »Aus der Milchstraße«, antwortete sie. »Und die strahlendsten Sterne dienen ihm als Pfeilspitzen.«
    Strong Winds Schwester begriff, daß ihr Bruder sich dem Mädchen zeigte, weil sie als erste zugegeben hatte, ihn nicht zu sehen. Sie nahm das Mädchen mit heim, badete sie und strich mit der Hand über die verletzte Haut, bis alle Narben verschwunden waren. Sie
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