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Ritualmord

Titel: Ritualmord
Autoren: Mo Hayder
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zugeschaut, wie die Tropfen auf das Wasser prasselten, als er sie entdeckt hatte. Und hier war sie – exakt an der Stelle, die er dem Team genannt hatte, versteckt unter dem Ponton. Ausgeschlossen, dass er sie bei diesen Sichtverhältnissen hier unten hatte erkennen können. Vom Ponton aus war es nicht möglich, zwei Handbreit in die Tiefe zu sehen.
    »Flea?«
    »Ja, ich dachte nur gerade… Hat einer von euch da oben jemals was anderes erlebt als null Sichtweite hier unten?«
    Eine Pause trat ein; Dundas befragte das Team auf dem Kai. Dann meldete er sich wieder. »Negativ, Sarge. Niemand.«
    »Definitiv null Sichtweite zu jeder Zeit?«
    »Ich würde sagen, das ist höchstwahrscheinlich so, Sarge. Warum?«
    Sie legte die Hand wieder auf den Grund des Hafens. Sie würde mit einem Asservatenbeutel zurückkommen – es kam nicht in Frage, dass sie damit an die Oberfläche schwamm und forensisches Beweismaterial verlor –, aber jetzt hielt sie sich an der Führungsleine fest und versuchte nachzudenken, herauszufinden, wie der Zeuge die Hand hatte sehen können. Doch sie konnte keinen richtigen Gedanken fassen. Hatte wahrscheinlich etwas mit dem zu tun, was sie letzte Nacht gemacht hatte. Entweder das, oder sie wurde älter. Nächsten Monat neunundzwanzig. Hey, Mum, was sagst du dazu?  
    Ichbin fast neunundzwanzig. Hättest du nie gedacht, dass ich so weit komme, stimmt’s?
    »Sarge?«
    Langsam ließ sie die Leine nach und stemmte sich dabei gegen den Zug des Assistenten, um den Anschein zu erwecken, als kröche sie am Kaisockel entlang zurück. Sie schob das Mikrokabel zurecht, damit die Verbindung störungsfrei blieb.
    »Ja, sorry«, sagte sie. »War mit meinen Gedanken woanders. Alles okay, Rich. Ich habe das Zielobjekt. Komme jetzt hoch.«
    Sie stand in der eisigen Kälte auf dem Kai, die Maske in der Hand. Ihr Atem hing weiß in der Luft, und sie zitterte, als Dundas sie mit dem Schlauch abspritzte. Sie war noch einmal mit einem Asservatenbeutel unten gewesen und hatte die Hand geborgen. Der Tauchgang war zu Ende und dies der Teil, den sie hasste: der Schock, wenn sie aus dem Wasser kam, der Schock, wenn sie wieder von Lärm und Licht und Leuten umgeben war – und die Luft, die sich anfühlte wie ein Schlag ins Gesicht. Sie klapperte mit den Zähnen. Und der Hafen sah trostlos aus, obwohl jetzt Frühling war. Der Regen hatte aufgehört, und jetzt leuchtete die kraftlose Nachmittagssonne auf Fensterscheiben, auf die stachligen Kräne im Great Western Dock gegenüber und die öligen Regenbogen auf dem Wasser. Sie hatten einen Teil der Veranda aus behandeltem Kiefernholz hinter einem Hafenrestaurant – dem Moat – abgesperrt, und ihr Team in den gelb fluoreszierenden Jacken bewegte sich zwischen den Tischen umher und sortierte die Ausrüstung: Tauchflaschen, Kommunikationssystem, Rettungsfloß, body board – alles lag ausgebreitet zwischen den Regenpfützen auf der Veranda.
    »Er war Ihrer Meinung.« Dundas drehte den Wasserschlauch ab und deutete mit dem Kopf auf das Panoramafenster des Restaurants mit dem verschwommenen, stumpfen Spiegelbild 
    des kriminaltechnischen Leiters, der auf die Hand hinunterschaute, die zu seinen Füßen in dem offenen Asservatenbeutel lag. »Er glaubt, Sie haben recht.«
    »Ich weiß.« Seufzend nahm Flea die Maske ab und zog die zwei Paar Schutzhandschuhe aus, die alle Polizeitaucher trugen. »Aber wenn man ihn so ansieht, würde man nie darauf kommen, hm?«
    Es war nicht der erste Körperteil, den sie aus dem Schlick rings um Bristol zog, und es würde auch nicht der letzte sein; abgesehen davon, was sie über die Traurigkeit und Einsamkeit des Todes sagte, war an einer abgetrennten Hand zumeist nichts weiter Bemerkenswertes. Es würde eine Erklärung dafür geben, irgendetwas Deprimierendes, Profanes – wahrscheinlich ein Selbstmord. Die Presse beobachtete den Polizeieinsatz oft mit ihren Teleobjektiven von der anderen Hafenseite aus, aber heute sah man niemanden auf dem Redcliffekai. Es war selbst ihnen zu alltäglich. Nur sie, Dundas und der Cheftechniker wussten, dass diese Hand keineswegs alltäglich war, und wenn die Journalisten hörten, was sie versäumt hatten, würden sie sich überschlagen, um ein Interview zu bekommen.
    Sie war nicht verwest. Im Gegenteil, sie war völlig unversehrt, von der Verletzung durch die Abtrennung einmal abgesehen. So verdammt frisch, dass sofort sämtliche Alarmglocken geschrillt hatten. Sie hatte den CSM darauf hingewiesen und gefragt,
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