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Ritualmord

Titel: Ritualmord
Autoren: Mo Hayder
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wie um alles in der Welt sie von ihrem Besitzer hatte getrennt werden können, wenn es allem Anschein nach unmöglich war, dass sie sich einfach so vom Körper lösen konnte – nicht ohne eine sehr spezielle Verletzung. Und wenn er sie fragte: Was man da an den Knochen sah, waren keine Fischbisse, sondern Klingenspuren. Und er hatte gesagt, dazu könne er sich vor der Obduktion unmöglich äußern, aber sie sei ziemlich clever. Viel zu clever, um ihr Leben unter Wasser zu verbringen.
    »Hat jemand mit dem Hafenmeister gesprochen?«, fragte 

    Flea jetzt, während ihr Assistent ihr half, das Geschirr mit dem Sauerstoffgerät abzulegen. »Ihn gefragt, welche Strömungen hier heute durchgegangen sind?«
    »Ja.« Dundas bückte sich und rollte den Schlauch zusammen. Sie schaute auf seinen Kopf hinunter, auf die leuchtend rote Mütze, die er immer trug – ansonsten, sagte er, könne er mit der Wärme, die sein kahler Schädel abstrahlte, ein ganzes Stadion heizen. Sie wusste, unter seiner fluoreszierenden Allwetterjacke verbarg sich ein großer, kräftiger Körper. Manchmal war es schwer, als einzige Frau dabei zu sein und Entscheidungen für neun Männer zu treffen, von denen die Hälfte älter war als sie, aber an Dundas zweifelte sie nie. Er war bei allem auf ihrer Seite. Als genialer Techniker pflegte er einen väterlichen Umgang mit den Kollegen und mit dem Gerät, und manchmal hatte er ein unglaublich dreckiges Mundwerk. Aber jetzt konzentrierte er sich, und wenn er das tat, war er so gut, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte.
    »Es gab heute eine Strömung, aber erst nach der Sichtung«, sagte er.
    »Von der Regulierungsschleuse?«
    »Genau. Heute Nachmittag um vierzehn Uhr für zwanzig Minuten geöffnet. Der Hafenmeister hat den Bagger zum Abladen aus dem Feeder Canal herunterkommen lassen.«
    »Und der Anruf kam wann?«
    »Um dreizehn fünfundfünfzig. Gerade als sie die Schleuse öffneten. Sonst hätte der Hafenmeister gewartet. Ja, ich bin sicher, er hätte gewartet, wenn ich mir vorstelle, wie sehr sie uns hier unten lieben. Wie sie sich jederzeit ein Bein für uns ausreißen.«
    Flea hakte die Finger unter den Rand der Neoprenhaube, rollte sie am Hals herauf und behutsam über Gesicht und Kopf, damit sie nicht allzu oft hängen blieb. Wenn sie ihre Hauben inspizierte, waren sie anscheinend immer voller Haare, ausgerissen mitsamt den Wurzeln. Manchmal fragte sie sich, warum sie 
    nicht schon längst so kahl wie Dundas war. Sie ließ die Haube fallen, fuhr sich über die Nase und schaute seitwärts über das Wasser, hinauf zur Perrot’s Bridge. Das Sonnenlicht strahlte golden auf dem doppelten Horn, und dahinter erstreckte sich die Wasserfläche von St. Augustin’s Reach, wo der Fluss Frome aus der Erde kam und in den Hafen mündete.
    »Ich weiß nicht«, brummte sie. »Klingt komisch, finde ich.«
    »Was haben Sie gesagt?«
    Sie zuckte die Achseln, warf einen Blick auf das graue Stück Mensch zwischen den Füßen der beiden Männer und überlegte, wie der Zeuge die Hand hatte sehen können. Aber sie kam nicht weiter. In ihrem Kopf ging es auf und ab wie auf einer Achterbahn – die sie mitreißen wollte. Sie griff nach einem Stuhl, ließ sich darauf sinken und legte die Hand an die Stirn. Sie wusste, dass das Blut aus ihrem Gesicht gewichen war.
    »Alles in Ordnung, Flea, altes Mädel? Mein Gott, Sie sehen aber nicht toll aus.«
    Sie lachte und fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht. »Na ja, ich fühle mich auch nicht so toll.«
    Dundas ging vor ihr in die Hocke. »Was ist los?«
    Sie schüttelte den Kopf und starrte auf ihre Beine in dem schwarzen Neoprenanzug, auf die Pfützen, die sich um ihre Taucherstiefel sammelten. Sie hatte mehr Tauchstunden absolviert als jeder andere in ihrem Team, und sie sollte hier die Verantwortung tragen; deshalb war es falsch, ganz falsch, was sie letzte Nacht getan hatte.
    »Ach, nichts«, sagte sie und bemühte sich um einen unbekümmerten Ton. »Das Übliche – ich kann einfach nicht schlafen.«
    »Immer noch so beschissen?«
    Sie lächelte ihn an und spürte, wie sich das Licht in den Regentropfen in ihren Augen fing. Als Teamchefin war sie zugleich Ausbilderin, und das bedeutete, dass sie manchmal am unteren Ende der Befehlskette ins Wasser stieg und anderen 
    Gelegenheit gab, die Tauchaufsicht zu übernehmen. Im Grunde ihres Herzens gefiel ihr das nicht; wirklich glücklich war sie damit nur an Tagen wie heute, wenn sie Dundas als Tauchaufsicht einteilte.
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