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Ritualmord

Titel: Ritualmord
Autoren: Mo Hayder
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er befürchtete, es werde gleich anfangen zu bluten. Man hörte nur das Plätschern des Wassers am Kai und das Klirren des Gurtwerks und Taucherflaschen, mit denen die Taucher hantierten. Nach einer ganzen Weile ließ sie die Hand sinken und deutete mit dem Kinn zu dem Ponton vor dem Moat hinüber.
    »Ich hab da etwas gesehen. Ziemlich spät abends. Stand da drüben vor dem Moat. Genau da, wo die Taucher jetzt sind.«
    »Etwas?«
    »Okay. Jemanden. Man würde wohl sagen, jemanden, obwohl ich nicht ganz sicher bin.« Wieder fröstelte sie. »Ich meine, es war wirklich dunkel. Nicht wie jetzt. Spät. Richtig spät. Wir hatten schon geschlossen, aber jemand hatte die Damentoilette vollgekotzt, und was glauben Sie, wer so was sauber machen darf? Ich ging mit dem Eimer durch das Restaurant und wollte zum Besenschrank, und ich kam da drinnen am Fenster vorbei…« Sie deutete auf das Station, wo ein paar Gäste die Polizeiabsperrung entdeckt hatten und die Hälse reckten, um zu sehen, was da vor sich ging. Die Sonne berührte fast den Horizont, und er sah sein und ihr Spiegelbild über den Leuten als Silhouetten vor dem lodernden Rot. »Und als ich an dem Tisch da vorbeikomme, bleibe ich aus irgendeinem Grund stehen. Und da sehe ich ihn.«
    Caffery hörte die Beklemmung in ihrer Stimme.
    »Er war nackt – das habe ich sofort gesehen.«
    »Er?«
    »Mein Freund glaubt, es war einer von den Zigeunerjungs. Manchmal verlaufen die sich hier ans Ufer des Cut. Man kann sie von der Straße aus sehen; sie campieren hinter den Lager 
    schuppen und hängen ihre Wäsche raus. Mein Freund meinte, es war ein Junge, weil er so winzig wirkte. Nur ungefähr so.« Sie streckte die Hand aus und hielt sie etwa einen Meter hoch über den Boden. »Und er war schwarz. Richtig kohlrabenschwarz, wissen Sie, deshalb glaub ich’s nicht. Ich glaub nicht, dass er ein Zigeuner war.«
    »Wie alt? Fünf, sechs?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es ja. Genau das hab ich meinem Freund gesagt. Er war nicht jung. Überhaupt nicht. Ich meine, er war klein wie ein Kind, aber er war kein Kind. Ich hab sein Gesicht gesehen. Nur kurz, aber lange genug, um festzustellen, dass er kein Kind war. Es war ein Mann«, sagte sie. »Ein total unheimlicher Mann. Das war so verdammt irre – deshalb weiß ich, dass Sie mir nicht glauben werden. Das und…«
    »Das und…?«
    »Und was er getan hat.«
    »Was hat er denn getan?«
    »Ach…« Sie fummelte wieder an dem Ring herum. Drehte den Kopf hin und her und wich seinem Blick aus. »Ach, Sie wissen schon…«
    »Nein.«
    »Das Übliche – wissen Sie –, was Männer so tun. Hatte sein Ding… Sie wissen schon.« Sie krümmte die Hand auf dem Tisch. »Hatte es so draußen.« Sie lachte verlegen. »Aber er war nicht – wissen Sie, nicht irgend so ‘n alter Wichser. Ich meine, das muss ein Trick gewesen sein, denn dieses Ding … er muss es umgeschnallt haben, denn es war… lächerlich. Lächerlich groß.« Jetzt sah sie ihn an, wütend fast, als habe er gesagt, er glaube ihr nicht. »Das ist kein Witz, ja? Und er wollte ganz offensichtlich, dass jeder, der im Moat war, es anschaute. Als ob er sie schocken wollte.«
    »Und war noch jemand da? Brannte noch Licht?«
    »Nein. Es war so gegen zwei Uhr morgens. Später erinnerte 
    ich mich noch mal daran, und ich dachte, vielleicht hat er sich selbst im Spiegel betrachtet. Wissen Sie – im Fenster. Wenn drinnen das Licht aus war, musste er sich da sehen können.«
    »Vielleicht.«
    Caffery ließ die Szene in seinem Kopf abspielen: das Restaurant leer, als einzige Beleuchtung das bunte Licht der Leuchtreklamen und der Coors-Schriftzug über der Bar, draußen die Lichter vom Redcliffe Quay und die Reflexe im Wasser, ein dunkler Streifen zwischen dem Fluss und dem Restaurant. Er stellte sich die verschwommenen Umrisse des Mädchens im Fenster vor, als sie mit ihrem Eimer durch das Lokal ging. Er sah ihr Gesicht, bleich und schockiert, wie sie nach leisen Geräuschen lauschte; ihre Augen wanderten hin und her und spähten in die dunkle Nacht hinaus. Er sah eine kindliche Silhouette vor dem orangegelben Himmel, die sich nackt in einem Panoramafenster betrachtete. Ein Priapus.
    »Was glauben Sie, woher er kam?«
    »Oh, aus dem Wasser.« Es schien sie zu überraschen, dass er sich das nicht denken konnte. »Ja, da kam er her. Aus dem Wasser.«
    »Sie meinen, aus einem Boot?«
    »Nein. Er kam aus dem Wasser. War geschwommen.«
    »Zum Ponton?«
    »Ich hab ihn nicht
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