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Ritualmord

Titel: Ritualmord
Autoren: Mo Hayder
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herschwimmen sehen, aber ich wusste, dass er von da kam, weil er nass war – er tropfte. Und da ging er dann auch wieder hin. Zurück ins Wasser da drüben. Da, wo das rote Ding jetzt ist. Richtig flink war er, wie so ein Aal.«
    Caffery drehte sich um. Sie deutete auf die rote Markierungsboje im Wasser. Sergeant Marley – Flea – musste jetzt darunter sein, denn das Tauchteam stand auf dem Ponton und spähte hinunter ins Wasser. Eine Führungsleine schlängelte sich aus dem Wasser zum Leinenführer hinauf, und Dundas sprach mit leiser Stimme in das Funkgerät. Es war schwer, sich vorzustellen, dass da unten jemand sein sollte: Der Wasserspiegel 
    war glatt und konturlos, und der rote Himmel spiegelte sich darin. Jemand hatte eine »Totenbahre« gebracht, einen starren, orangegelben Polyurethanblock, der jetzt erwartungsvoll auf dem Steg lag, um bei Bedarf ins Wasser geworfen zu werden. Eine gespenstische Stille hing über der Szene im schwindenden Licht – als lauschten sie alle auf das Wasser und warteten darauf, dass etwas heraufgeschossen käme. Vielleicht ein Mensch, der aussah wie ein Mann, aber so klein wie ein Kind war. Ein Mensch, der sich bewegte wie ein Aal.
    Caffery drehte sich zu dem rothaarigen Mädchen um. Ihre Augen waren jetzt feucht, als erlebte sie die Angst noch einmal, als erinnerte sie sich, wie etwas Dunkles, Nasses lautlos ins Wasser glitt.
    »Ich weiß.« Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck. »Ich weiß. Es war das Unheimlichste, das ich je erlebt hab. Ich hab’s eine Weile beobachtet, wie es sich an der Mauer entlangbewegte, und dann…«
    »Und dann?«
    »Dann ging es unter. Tauchte unter, ohne das Wasser zu kräuseln. Und ich hab’s nie wieder gesehen.«
    Flea und ihre Einheit waren nicht nur Taucher. Neben dem üblichen Unterstützungsdienst bei Unruhen und der Vollstreckung von Haftbefehlen waren sie speziell ausgebildet für Durchsuchungen in beengten Räumen und die Beseitigung von chemischem und biologischem Risikomaterial. Eine Folge ihrer Erfahrung im Umgang mit Schutzkleidung verschiedener Art bestand darin, dass Fleas Team, wann immer ein verwesender Leichnam gefunden wurde – im Wasser oder an Land –, hinzugezogen wurde, um ihn zu bergen. Sie waren so gut im Umgang mit zersetzten Leichen, dass man sie im Dezember 2004 nach Thailand schickte, um bei der Identifizierung der Tsunamiopfer mitzuhelfen: In zehn Tagen hatte das Team fast zweihundert Tote geborgen. 

    Die Leute konnten nicht glauben, dass sie damit zurechtkam. Zumal nach dem Tsunami, fanden sie. Hatte sie keine Albträume? Nein, eigentlich nicht, sagte Flea. Und außerdem bekommen wir psychologische Betreuung. Dann fragten sie, ob sie so etwas denn tun müsse und nicht ihr Talent vergeude, wenn sie verrottete Leichen aus Abflussrohren zog. Sie brauchte doch sicher nur ein Wort mit ihrem Vorgesetzten zu reden und die Versetzung zur Kriminalpolizei zu beantragen, dann könnte sie in Zivil arbeiten. Wäre das nicht besser?
    Darauf gab sie keine Antwort. Sie wussten ja nicht, dass sie diese Arbeit nicht aufgeben konnte, dass sie seit dem Unfall ihrer Eltern nur noch dann richtig denken konnte, wenn sie einen Toten seiner Familie zurückgab, weil ihr klar war, dass vielleicht irgendwo ein Vater oder eine Mutter, ein Sohn oder eine Tochter auf dem Weg zur Genesung einen Schritt weiterkommen würde. Und das Tauchen – vor allem war es das Tauchen. Ohne das Tauchen – wie sie es ihr Leben lang mit ihrer Familie getan hatte – würde sie morgens niemals aufstehen. Nur unter Wasser konnte sie wirklich sie selbst sein.
    Heute allerdings nicht, an diesem Abend fühlte sie sich selbst unter Wasser unbehaglich. Das Wasser im Hafen hatte sich ein bisschen beruhigt, und im Licht ihrer Lampe sah sie schemenhafte visuelle Anhaltspunkte. Versunkene Formen lösten sich aus dem Schlick, Orientierungsmarken, die sie erkannte: ein versunkener Heizungstank, der vor einem Monat von einem Schiff gekippt worden war, ein Auto, etwa zehn Meter weit links von ihr – ein Peugeot, dessen Windschutzscheibe mit dem Steuersticker im Halbdunkel noch sichtbar war, wenn man nah genug herankam. Ein Versicherungsbetrug, der Wagen war in der Nähe des Ostrich Inn ins Wasser geschoben worden, bevor der Schlipp gesperrt worden war. Hatte fast sechs Monate dort gelegen, bis der Arm des Baggers eines Morgens im Februar dröhnend dagegengeschlagen war. Sie hatte den Wagen durchsucht und Bergungsdrähte an 
    geschlagen, um dem Hafenmeister einen
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