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Ritter-Geist

Titel: Ritter-Geist
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retten…
    Plötzlich erinnerte Dolph sie an Threnodia. Vom Äußeren her war das völlig aberwitzig, gefühlsmäßig jedoch äußerst tiefgehend. Wieso erinnerte sie ihr hilfloser, krähender Säuglingsbruder an diese schöne Frau?
    Nun, das ließ sich herausfinden. Ivy stellte sich näher an die Wiege und konzentrierte sich, um die Eigenschaften des Säuglings zu verstärken. »Was hat er für ein Talent?« fragte sie.
    »Das wissen wir noch nicht, Liebes«, erwiderte Irene. »Manchmal dauert es Jahre, bis man das magische Talent eines Menschen en t deckt hat, und es gibt auch keine Garantie dafür, daß sich der Aufwand immer lohnt.« Das machte Irene wirklich Sorgen, wie Ivy bemerkte. Sie wollte nicht, daß eines ihrer Kinder nur über ein mageres Talent verfügte.
    »Er versucht, seine Magie zu machen«, erklärte Ivy, ihrer Klei n mädchenintuition vertrauend. »Aber das kann er noch nicht, de s halb ist er frustriert.« Was Frustration anging, war Ivy eine richtige Expertin.
    Irene lächelte, ohne ihre Tochter ernst zu nehmen. So etwas konnten Erwachsene nur zu gut, und zwar auf äußerst irritierende Weise. »Wie du meinst, Liebes.«
    Ivy fuhr mit ihrer Konzentration fort, denn sie wußte, daß sie zu irgendwelchen Ergebnissen führen würde. Das tat sie immer, wenn sie wollte. Sie war sicher, daß es irgendeinen Grund dafür geben mußte, weshalb Dolph sie an Threnodia erinnerte, und sie war überzeugt davon, daß sie diesen Grund deutlich werden lassen konnte, wenn sie ihn nur hinreichend intensivierte.
    Plötzlich befand sich ein Wolfsjunges in der Wiege. »He, guck mal!« rief Ivy erfreut.
    Irene guckte – und kreischte.
    Einen Augenblick später kamen König Dor und das halbe Schloßpersonal ins Zimmer gestürzt. Sie waren alle noch nervös wegen des Erdbebens – vielleicht sollte man es lieber bei dieser Erklärung belassen? –, aber es war schon zu spät. Von dem Kre i schen erschreckt, hatte sich Dolph wieder in ein Baby verwandelt. »Och, ihr habt es verpaßt«, murrte Ivy gereizt. »Dolph ist ein Wandler.«
    Irene beruhigte sich wieder genug, um ihr zuzuhören. »Ein was?«
    »Wie Threnodia. Nur schneller. Er braucht dafür keine Stunde, er schafft es sofort. Er…«
    »Wer?«
    »Threnodia. Das ist eine lange Geschichte.« Ivy sah wieder das Baby an, das nun friedlich schlief, zufrieden mit dem Ergebnis seiner Anstrengung. Nun sah Dolph nicht mehr ganz so abst o ßend aus wie vorher. »Vielleicht hat Dolph ja Dämonenblut in seinen Adern.«
    »Aber nicht von meiner Familie!« fauchte Irene.
    »Ob er sich wohl verdünnen kann?« überlegte Ivy laut.
    »Sofortige Gestaltwandlung?« fragte König Dor. »Wenn er ein Werwolf ist, dann ist das eine Sache, ein geringeres Talent. Wenn er sofort nach Belieben jede andere Gestalt annehmen kann, dann ist das etwas anderes.«
    »Oh, klar doch, der kann jede Gestalt annehmen«, sagte Ivy mit Gewißheit. »Er braucht bloß ein bißchen Hilfe, um damit anzufa n gen. Er ist ja schließlich noch ein Baby, mußt du wissen.«
    Dor ergriff sie und hob sie auf. »Das war mir gar nicht klar«, sagte er mit unbeweglicher Miene, indem er sie auf jene nette We i se neckte, in der Pappis das zu tun pflegten. »Ich dachte schon, er wäre möglicherweise erwachsen, so wie du.«
    »Ach, hör auf, Pappi«, sagte sie und küßte ihn auf die Wange.
    Irene wechselte einen Blick mit ihrer Tochter. »Jede beliebige Gestalt? Das wäre ja ein Talent von Magierkaliber!«
    »Mindestens«, pflichtete Ivy ihr bei. Sie hatte es entdeckt, also war es auch ihr Verdienst, und je großartiger das Talent war, um so besser.
    Danach wurde das Gespräch recht lebhaft, doch Ivy wurde dabei übergangen. Aber das kümmerte sie auch nicht weiter. Sie würde noch ein paar Tage der Vernachlässigung ertragen, bis etwas Gras über die Sache mit den Gespenstern gewachsen war. Es könnte ganz interessant werden, einen Bruder zu haben, der sich in jedem Augenblick in irgendeine beliebige Kreatur verwandeln konnte. Sie würde ihm beibringen, wie er an die Keksdose hoch oben im Regal herankam, indem er sich in eine Schnecke verwandelte und die Wand emporkroch, so daß sie zwischen den Mahlzeiten niemals würden Hunger leiden müssen. Oder wie er sich in einen kleinen Drachen verwandeln und Marshmallows toasten und gewissen Leuten heiße Füße verschaffen konnte. Die Möglichkeiten waren schier endlos!
    Ja, es sah so aus, als würde das Leben schon bald um einiges i n teressanter werden.
     
    ENDE
     
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