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Rita das Raubschaf

Rita das Raubschaf

Titel: Rita das Raubschaf
Autoren: Martin Klein
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Blick. Jenseits davon riecht es schon fast nach Karibik.
    Ruth läuft durchs hohe Gras, kostet hier und da von einem besonders schmackhaft aussehenden Kraut und hüpft mit Anlauf über die Gräben. Das macht Spaß, und sie fühlt sich dabei fast schon wie ein Freibeuter, der ein Schiff voller Grapscher entert.
    Dann erreicht Ruth den Deich. Sie klettert gespannt hinauf und stellt sich auf die Hinterbeine.
    »Waoh.«
    Ruth staunt, wie jeder, der zum ersten Mal das Meer sieht. Heute trägt es ein freundliches Dunkelblau. Es kräuselt sich hunderttausendfach und lässt unzählige weiße Kronen aufblitzen. Das Beste ist der Horizont. Dahinter geht es weiter, immer weiter, bis in die Karibik und nach Südamerika.

    Ruth betrachtet das Meer lange. Dann spürt sie einen Stoß in den Rücken und fällt nach vorn.
    »Oh, Verzeihung.«
    Hinter ihr steht ein Schaf. Es rupft bereits wieder eifrig Gras.
    Ruth deutet aufgeregt auf den Horizont. »Schau mal!«
    Ohne den Kopf zu heben, fragt das Schaf: »Was ist denn da?«
    »Das Meer!«, ruft Ruth begeistert. »Der Horizont! Die Karibik! Südamerika!«
    »Määh«, erwidert das Schaf und frisst weiter.
    Ruth beschließt, erst einmal eine Höhle zu graben. Sie macht sich an die Arbeit und achtet darauf, dass in ihrem neuen Unterschlupf nichts an einen Fliegenpilz erinnert. Als die Höhle fertig ist, setzt Ruth sich vor den Eingang und schaut aufs Meer.
    Ein Schatten mit Flügeln huscht über sie hinweg. Jedes normale Meerschwein würde in einem solchen Augenblick in seine Höhle flitzen. Ruth bleibt sitzen. Sie schreit nur heiser auf, und die Lachmöwe über ihr flieht im Zickzack durch die Luft. Ruth stellt fest, dass es auf dem Deich noch mehr Schafe gibt. Viele, viele Schafe. Und kein einziges betrachtet den Horizont. Bis auf eins. Es ist noch klein, und es hat Ärger.
    »Rita, wie oft hab ich dir schon gesagt: Guck nicht aufs Meer, sondern grase!«, schimpft das Mutterschaf.
    »Keine Lust!«, brummt das kleine Schaf.

    »Gib nicht immer Widerworte! Wo hast du nur dieses Benehmen her. Und die Flausen! Ein Raubschaf möchte die Dame werden! So ein Blödsinn! Jeder weiß, dass Schafe grasen und dafür sorgen müssen, dass die Menschen Pullover haben!«
    »Raubschafe behalten ihre Pullover selbst«, antwortet Rita schnippisch. »Und drüber tragen sie Wolfsfell.«
    »Schluss jetzt!«, schnaubt der Hammel Kurt-Georg. »Gegen einen Hund wie Boris könnte selbst ich nichts ausrichten. Wie willst du da erst Wölfen ans Fell, wenn du nicht mal Hörner hast?!«
    Die Elternschafe grasen weiter.
    »He, du.«
    Rita dreht sich um. Im Gras zwischen den Halmen hockt ein kleines, ungekämmtes Tier.
    »Du hast keine Hörner«, sagt es. »Aber du hast Hufe. Und das ist auch was.«
    »Hufe?« Rita betrachtet erstaunt ihre vier Beine. »Nein, ich hab Klauen. Schafe haben Klauen.«
    »Hufe klingt aber besser«, erwidert das kleine, ungekämmte Tier. »Oder bist du ein Vogel?«
    »Nein, ich bin … Rita das Raubschaf«, murmelt Rita ganz leise und betrachtet Ruth noch erstaunter.
    Ruth strahlt über ihr weiches Meerschweingesicht und grunzt vor Freude. Es hört sich an wie ein Wildschwein, das sich an einem Baum kratzt.
    »Das trifft sich sehr gut. Ich bin Ruth das Raubmeerschwein.« Ruth schaut Rita an. »Im Übrigen: Ob Huf oder Klaue, das ist doch egal. Hauptsache, du kannst was damit anstellen, wenn’s drauf ankommt.«
    Rita betrachtet erst ihre Hufe und dann wieder Ruth.
    »Ein Raubmeerschwein bist du also«, murmelt sie.
    »Ein Raubrosettenmeerschwein, wenn du’s ganz genau wissen willst.« Ruth blinzelt Rita verschwörerisch zu. »Sir Francis Drake?«, fragt sie.
    Ritas Schafsgesicht leuchtet auf. »Oder vielleicht doch Klaus Störtebeker?«
    »Pirat?!«, fragt Ruth.
    »Oder Freibeuter?!«
    »Karibik!!«, rufen Rita und Ruth gleichzeitig, und dann wild durcheinander: »Australien! Südamerika! Hunde verhauen! Süßfinder versohlen!«
    Sie schweigen eine Weile einträchtig und schauen gemeinsam auf den Horizont, und schließlich fragt Rita: »Wie kommst du hierher?«
    Ruth erzählt ihre Geschichte, und Rita weiß so langsam nicht mehr, wo sie all ihr Staunen hernehmen soll.
    »Kannst du auch schnauben wie ein Nilpferd?«, fragt sie. »Und heulen wie eine Hyäne?«

    Ruth nickt stolz und holt Luft. Ihr Prusten ist lauter als das Tosen eines Wirbelsturms und ihr Heulen schauerlicher als ein Geisterchor.
    Pludumps, pludumps, pludumps.
    Die Schafe auf dem Deich lassen vor Schreck Schafsköttel
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