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Riemenschneider

Riemenschneider

Titel: Riemenschneider
Autoren: Tilman Röhrig
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mit dem Nachthemd bekleidet, hockte sie in sich zusammengesunken nahe dem Tisch auf einem Stuhl, den Kopf über die ausladende Wölbung der Brüste geneigt, schlaff hingen die Arme, ihre rechte Hand stützte sich schwach auf den Blasebalg neben dem ausgestreckten nackten Bein. Blut quoll aus einer Wunde am Knie, aderte langsam über Schienbein und Wade und stockte schon an der Fessel.
Erleichtert setzte Til das Mädchen ab. »Meine gute Anna.«
Keine Antwort. Behutsam näherte er sich und legte die Hand auf ihre Schulter. »Was ist dir?«
Der mitfühlende Ton flößte Leben ein. »Das Herz, es ist das Herz«, flüsterte sie. »Erst war es nur ein Stich wie bei der Pfingstprozession, weißt du noch … Und vorhin wollte ich gerade das Feuer anblasen, da stach es immer wieder, so mitten in die Brust. Vor Schmerz bin ich gegen die Ecke vom Herd gestoßen … Ach, Liebster.« Sie wandte den Kopf, schmiegte die Wange an seine Hand. »Dann ist mir ganz schlecht geworden.«
Das Kind staunte mit geweiteten Augen die Eltern an. Til sah die Angst, wollte beruhigen, unterließ es aber, weil jedes Leid seiner Frau, und sei es auch noch so klein, nicht rasch geschmälert werden durfte. So gab er Gertrud den Auftrag, das Riechfläschchen drüben aus dem Wandregal herzubringen und den Kork herauszuziehen. »Nun halt es der Mutter unter die Nase. Aber vorsichtig.«
Beißender Geruch vermischt mit Lavendel breitete sich in der Küche aus. Anna nahm nur einen Atemzug der Dämpfe, ihr Kopf fuhr zurück. »Weg damit, Kind.« Sie kniff die Augen zusammen, rang vergeblich nach frischer Luft. »Willst du mich vergiften?« Husten folgte. »Weg damit. Sofort. Hörst du!«
Nun völlig verwirrt, begann Gertrud zu weinen. Der Vater nahm ihr das Fläschchen vorsichtig aus der Hand und verschloss es wieder. »Du hast der Mutter geholfen«, tröstete er leise. »Nun ist sie wieder gesund.« Damit ging er durch die Küche und stellte das Riechsalz zurück an seinen Platz. Als er sich umwandte, war Gertrud hinausgelaufen. Anna saß aufrecht da, den Blasebalg an die Brust gepresst, empfing sie ihn mit wehem Blick. »Tu es nicht, Mann! Ich bitte dich, lass kein fremdes Weib in deine Werkstatt.«
Eine steile Falte wuchs ihm zwischen den Brauen. »Es ist entschieden. Und damit soll es gut sein.«
»Wie redest du mit mir?« Ihr Busen hob und senkte sich. »Alles, was du besitzt, hast du von mir und meinem seligen Ewald. Das Haus, die Werkstatt. Und Meister bist du nur geworden, weil ich erlaubt habe, dass du mich heiratest …«
»Genug jetzt, Anna! Nicht schon wieder.« Er schloss die Augen, versuchte den Zorn zu unterdrücken. »Versteh doch: Adam und Eva sind mein erster großer Auftrag vom Stadtrat. Ich muss und werde das Menschenpaar aus dem Stein hauen, so schön, wie es noch nie vorher geschaffen wurde. Und nur damit die Arbeit gelingt, kommt Magdalena heute hierher.«
»Wie du den Namen schon sagst …«
»Bitte schweig! Wenn du weiter streitest, habe ich nachher keine ruhige Hand. Dann muss sie häufiger kommen, als wir ausgemacht haben.«
Diese Bedrohung zeigte Wirkung. Anna öffnete und schloss wortlos wieder den Mund.
Ohne den kleinen Sieg auszukosten, fragte er: »Soll ich dein Knie verbinden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Beeil dich, sonst hast du nur das Hemd an, wenn diese …« Nein, kein neuer Vorwurf, tapfer ergänzte sie: »Gleich kommen die Mägde und deine Gesellen vom Speicher runter, auch meine Buben. Ich muss das Feuer anfachen für den Brei.« Das Leid schwang in der Stimme mit. »Ankleiden muss ich mich. Und meine Wunde versorge ich selbst. Ach, Riemenschneider, was für ein trauriger Morgen.«
Alle Hausbewohner hatten sich im geräumigen Speisesaal um den Tisch versammelt. Mit gesenktem Kopf, Nase und Lippen berührten die zusammengelegten Hände, lauschten sie dem Gebet. Meister Til sprach langsam und fest, sein Amen schwang kräftiger als gewöhnlich zur getäfelten Decke hinauf. Stumm nahm jeder seinen Platz ein. An den Kopfenden saßen sich Hausfrau und Hausherr gegenüber. Gertrud hockte links der Mutter, die drei schmalbrüstigen Söhne zu ihrer Rechten, zwei von ihnen spross bereits dichter Flaum an Oberlippe und Kinn.
Warten, bis der Vater sich genommen hatte. Und er verlangte von jedem Geduld, achtete streng auf die Sitten bei Tisch: Wer sich zu gierig benahm, der musste aufstehen, der durfte erst nach der Mahlzeit essen, was übrig geblieben war. Dies war die Regel, doch bisher hatte niemand die Strafe vollends
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