Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Richter

Richter

Titel: Richter
Autoren: Carlo Ciancarlo de u Lucarelli Andrea u Cataldo Cammilleri
Vom Netzwerk:
zum Kassier um und blickte ihm in die Augen. Der Mann spürte, wie es ihm kalt wie eine Schlange den Rücken heraufkroch. Was für Augen hatte dieser Mann nur? Hellblau, kalt wie der Himmel früh an einem Wintermorgen. Surra legte wortlos eine Münze von hohem Wert vor ihn hin. Mit gesenktem Kopf gab der Kassier ihm den Rest heraus. Dann aber trat der Richter gemächlichen Schrittes auf den Tisch zu, neben dem Don Nené immer noch stand, zornesrot wegen der Abfuhr. Im Café herrschte eine Stille, die man mit dem Messer hätte schneiden können.
    »Ihr seid Emanuele Lonero?«
    »Ja.«
    »Dann will ich die Gelegenheit nutzen«, meinte der Richter höflich lächelnd.
    »Wozu?«, fragte Don Nené.
    »Geduldet Euch kurz.«
    Er zog den anonymen Brief heraus, entfaltete ihn, fand seine Brille in der Innentasche seiner Jacke, setzte sie ruhig auf und sagte schließlich so laut, dass alle es hören konnten: »Ich kenne Euch nicht, und ich will auch gar nicht wissen, wer Ihr seid, doch meines Wissens enthaltet Ihr dem Gericht rechtswidrig die Ermittlungsakten in den Sachen Milioto, Savastano, Curreli und Costantino vor. Ihr werdet sie dem Gericht höflichst zurückerstatten, und zwar innerhalb von vierundzwanzig Stunden.«
    Er steckte den Brief wieder ein, nahm die Brille ab und verstaute sie in seiner Jacke, drehte dem zur Salzsäule erstarrten Don Nené den Rücken zu und ging hinaus.
    Sofort wurde ihm klar, dass er einen schweren Fehler begangen hatte.
    Er hätte nur ein Cannolo essen sollen, nicht zwei. Wenn er jetzt ins Bett ging, den Magen von all dem Ricotta beschwert, würde er keinen Schlaf finden. Nein, er musste noch mindestens eine Stunde weiterspazieren.
    Als er den Corso zum dritten Mal entlangging, vollführten zwei gut gekleidete Männer, die in der entgegengesetzten Richtung auf ihn zukamen, eine Bewegung, bei der einer der beiden ihn beinahe gestreift hätte.
    Und da hörte der Richter, wie er ihm zuflüsterte: »Bravo! Ihr verdient Hochachtung!«
    Verdutzt blieb er stehen. Hatte der andere »Bravo« gesagt?Und wenn ja, warum, was hatte er denn getan? Er vermochte es sich nicht zu erklären. Galt vielleicht der Verzehr von zwei Cannoli hierzulande als Beweis des Mannesmutes? Es dürfte nicht leicht werden, sie zu verstehen, diese Sizilianer.

2.
    U m sechs Uhr in der Früh weckte ihn ein herzzerreißender Schrei von der Straße. Er sprang aus dem Bett, riss das Fenster auf, blickte hinaus. Der Schreihals war ein Bauer, der unterm Arm einen Korb voll Eier trug. Schon wieder ertönte sein Schrei. Von einem blumengeschmückten Balkon gegenüber ließ eine Frau an einem langen Strick ein Körbchen hinab, der Bauer nahm die darin enthaltenen Münzen heraus, legte dafür vier Eier hinein und führte seinen Weg fort. Eben wollte der Richter das Fenster wieder schließen, da ertönte ein weiterer gellender Schrei. Er schaute wieder hinaus. Es war eine abgerissene Alte, die Gemüse feilhielt. Was wehklagten diese Leute bloß so, um ihre Ware anzupreisen?
    Erst da fiel ihm auf, dass man begonnen hatte, entlang der Straße Marktstände aufzubauen. Kurz kehrte er zurück ins Bett, dann wusch er sich und kleidete sich an. Um halb acht hörte er es klopfen. Er ging zur Tür und öffnete.
    »’Gebenster Diener, bin die Pippina.«
    Eine fette, lächelnde und sympathische, vertrauenerweckende Frau. Der Richter fragte, was er ihr monatlichfür ihre Dienste schulde, und sie nannte eine unglaublich geringe Summe. Er erklärte ihr, was er mittags und abends gern aß, und gab ihr Geld für die Einkäufe. Auch gab er ihr den Hausschlüssel, von dem er ein Doppel hatte. Als die Frau gegangen war, schrieb er seiner Gattin einen Brief, und um Viertel vor neun wollte er sich auf den Weg machen. Als er die Tür öffnete, stand Attanasio vor ihm.
    »Bin schon da, ’Cillenza.«
    »Ich hab jetzt keine Zeit für den Hund.«
    »Ich komm auch nicht mit den Hunden«, entgegnete Attanasio bestimmt.
    »Was wollt Ihr dann?«
    »Heut früh ins Gericht nehmt Ihr besser die Kutsche, gnä’ Herr.«
    »Wieso denn? Es regnet nicht, es ist ein herrlicher Tag!«
    »Hört, was ich sage, nehmt die Kutsche!«
    Der Richter wurde zornig. Was dieser Attanasio sich herausnahm!
    »Basta! Ich habe beschlossen zu Fuß zu gehen!«
    »Dann erlauben ’Cillenza, dass ich Euch begleite?«
    »Nein«, gab er hart zurück.
    Resigniert schlug Attanasio mit den Armen aus und ließ ihn vorbei.
    Die Straße war inzwischen ausgesprochen belebt. Nicht nur Frauen, auch viele
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher