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Reich durch Hartz IV

Reich durch Hartz IV

Titel: Reich durch Hartz IV
Autoren: Rita Knobel-Ulrich
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dann aber doch mal danach gefragt wird, lautet die wohlfeile Antwort in der Regel: »Einkommensmillionäre und Wohlhabende müssen eben mehr abgeben.« Dabei wird gern übersehen, dass schon für Angehörige des Mittelstands mit einem Bruttomonatseinkommen von 3500 Euro aufgrund des progressiven Steuertarifs die Steuerbelastung bei einer dreiprozentigen Gehaltserhöhung so steigt, dass netto von der Gehaltserhöhung um 105 Euro gerade mal 48 Euro im Geldbeutel bleiben, die Steuerbelastung um 4,8 Prozent steigt und das Nettojahreseinkommen nur um 2,4 Prozent. Einkommensverlust trotz Gehaltserhöhung – das ist also möglich. Ursache ist die kalte Progression: Liegt das resultierende Netto-Plus unterhalb der Inflationsrate, sinkt der Reallohn.
    »Besserverdiener« ist ein Stigma, das beim Moderator von Talkshows und seinen Gästen, die in der Eröffnungsrunde als »Armutsforscher«, »Sozialpädagogen« oder »Streetworker« vorgestellt wurden, zu hochgezogenen Augenbrauen führt. Im Laufe der Diskussion reagiert das Publikum oft mit empörtem Geraune auf diese »Besserverdiener« und »Unternehmer«, was dann wieder meist hilflose Rechtfertigungen der Eingeladenen nach sich zieht. Der Begriff »Unternehmer« wird auch gern mit Adjektiven wie profitorientiert oder gierig versehen. Dagegen wird die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern, die seit Jahren von Sozialhilfe und Hartz IV lebt, meist mit »hilflos«, »arm« und »bedürftig« etikettiert. So gut wie nie wird nachgefragt, worin ihre Verantwortung für diese Situation besteht, warum sie keinen Schulabschluss und keine Ausbildung, aber fünf Kinder in die Welt gesetzt und letztlich eine Lebensentscheidung getroffen hat, für die sie selber und nicht der Steuerzahler die Verantwortung übernehmen muss.
    Doch wenn Solidarität immer mehr zur Einbahnstraße wird, wenn die, für die gesorgt wird, immer mehr beanspruchen und immer weniger von Pflichten halten, und wenn Firmen Leistungen, die sie selber erbringen können, auf den Staat abwälzen, dann stimmt etwas nicht mehr. Es ist absehbar, dass so ein System irgendwann nicht mehr bezahlbar ist. Was ist mit unserer Solidarität gegenüber den Bürgern der Mittelschicht? Müssen nicht auch jene, die durch ihre Arbeit die staatlichen Leistungen erst ermöglichen, geschützt werden?
    Wenn unser Land eine Zukunft haben soll, dann müssen Aufgaben gemeistert werden, die unsere ganze Kraft und viel Geld kosten werden: einmal die Integration der vielen hier lebenden Migranten. Wenn das nicht bald geschieht, fliegen uns die Probleme nur so um die Ohren. Wir müssen dringend die Bildungschancen verbessern, damit Hartz IV nicht mehr »vererbt« wird. Weil Kinder der einzige echte »Rohstoff« sind, den wir haben. Auch die Bewältigung der Folgen der Alterspyramide gehört dazu, immer weniger junge Menschen werden immer mehr Alte in Zukunft ernähren müssen.
    Eines möchte ich von Anfang an klarstellen: Es gibt natürlich Firmen, die eine sinnvolle Weiterbildung anbieten, die wiederum zu einem sozialversicherungspflichtigen Job führt oder Arbeitslosen mit einer Zusatzqualifizierung weiterhilft, damit sie eine Perspektive haben und eine neue Stelle finden. Es gibt selbstverständlich auch Hartz-IV-Bezieher, die ihr Leben lang gearbeitet haben – ob 30 Jahre bei Nokia, bei Schlecker oder Opel. Die jetzt intensiv und verzweifelt einen neuen Job suchen und sich mit Ende 50 sagen lassen müssen, sie seien zu alt. Die eine intakte Familie haben, ihre Kinder in die Schule schicken und sie dazu anhalten, einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung zu machen. Die sind in diesem Buch ausdrücklich nicht gemeint.
    Dieses Buch beschreibt vielmehr die Erfahrungen mit den Folgen der Haltungsänderung und zu welchen Absurditäten die Abkehr von Kennedys Forderung geführt hat. Es zeigt, was passiert, wenn die Grundeinstellung in unserem Land immer häufiger beschrieben werden kann mit: »Ich frage nur – und vor allem –, was mein Land für mich tut. Und nicht, was ich für mein Land tun kann.« Es gibt das wieder, was mein Team und ich erlebt haben. Gespräche und Eindrücke aus Wohnungen zwischen Berlin-Hellersdorf und Hamburg-Mümmelmannsberg, Begegnungen in Suppenküchen und auf Gemüsefeldern, Treffen mit Putzbrigaden und im Rahmen von »Maßnahmen« von Bildungsträgern, in Strickkursen und Supermärkten, Immobilienbüros und Rechtsanwaltskanzleien, Jobcentern und Tafeln.
    Hamburg, im Januar 2013

Wie Firmen den Staat
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