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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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Das Manuskript hatte er gerade dem Verlag übergeben, es würde noch im gleichen Jahr erscheinen, als er noch einmal zu uns kam. Das war im Oktober 1983. Wir wohnten in einer Altbauwohnung in der Friedrichstraße. Da stand er vor der Tür, ein gebeugter, rotgesichtiger Mann mit einem Lilienstrauß und einem Konfektkarton, frierend. Die schwarze Lederjacke, Jackett, der schwarze Mützendeckel. Ich war zufällig allein. Ich erschrak, weil ich wußte, was ihm inzwischen geschehen war: Wie sollte ich ihm begegnen?
    In der Erinnerung kommt es mir vor, als ob das Zimmer – das typische Mittelzimmer einer Berliner Wohnung – dunkel war, obwohl es sicher genauso hell war wie sonst. Und ich sehe seine Gestalt als dunklen Schattenriß gegen das Fenster zum Hof. Die Atmosphäre war, das habe ich damals schon so empfunden, düster, unheimlich. Uwe – ich nannte ihn »Uwe« und Sie, er mich standhaft »Frau Wolf« –, Uwe lehnte zuerst den Cognac ab, den ich, zögernd zwar, doch hingestellt hatte. Er trank drei Kannen Tee. Ein mäanderndes Gespräch begann, das strotzte vor Befangenheit. Worüber sprachen wir denn? Über Sheerness-on-Sea, in der Grafschaft Kent in England, wo er seit 1974 wohnte. Über die Lage seines Hauses an der Themsemündung. Über das Munitionsschiff aus dem Zweiten Weltkrieg, das in Sichtweite vor der Küste lag und jederzeit explodieren konnte. Die Kneipe, die er endlich gefunden habe, die er täglich aufsuche und in der man ihn eines Tages »Charles« getauft habe. Und so heiße er nun. Einer der anderen Gäste brachte ihm, als er gehört hatte, er, Johnson, habe Schwierigkeiten mit seinem Parkettboden, eines Tages eine Parkettreinigungsmaschine. Und als er sich wegen seines Herzinfarkts wochenlang nicht sehen ließ, entsandten sie eine Delegation zu ihm: Ob vielleicht irgendein Wort gefallen sei, das ihn verletzt habe? Und als er
dann wieder erschien, stand sofort einer auf und räumte ihm seinen gewohnten Platz ein. Andere kamen, berührten ihn am Arm: Wieder okay? – Hatte er etwas wie Heimat gefunden?
    Und doch: Sein immerwährendes Heimweh nach Mecklenburg. – Hervorragend, teilweise urkomisch, erzählte er von jener Zwölftagereise mit der englischen Reisegruppe. Übrigens habe er Stephan Hermlin gebeten, höheren Orts nachzufragen, ob er nicht für ein Jahr in Rostock still leben könnte. Einmal hatte er zu uns in vollem Ernst gesagt: Gerne würde er den Nationalpreis der DDR bekommen.
    Ich merkte, er gierte danach, sich mitzuteilen. Ich versuchte es ihm zu erleichtern durch vorsichtig herantastende Fragen. Schließlich sagte ich, wie man ins kalte Wasser springt: Ich habe Ihre Vorlesungen ( Begleitumstände ) nämlich gelesen. Darauf er, wie aus der Pistole geschossen: Natürlich hätte ich mir die vorletzte Seite sparen können. Aber ich wollte nicht länger erpreßbar sein.
    In den »Frankfurter Vorlesungen«, die er auf Drängen seines Verlegers Siegfried Unseld 1979 hielt, nennt er bekanntlich auf dieser »vorletzten Seite« die Ursache für eine jahrelange Schreibhemmung, erwähnt eine katastrophale Nachricht, die seine Ehe und nach seiner Meinung die Integrität seiner Arbeit in Frage stellte. Und als ob das nicht genug wäre – es war ihm nicht genug! –, glaubte er an eine Verschwörung zwischen verschiedenen Geheimdiensten: zu dem einzigen Zweck, die Vollendung seiner Arbeit zu verhindern. »Eine Beschädigung der Herzkranzgefässe war begleitet von einer Beschädigung des Subjekts, das ich in der I . Vorlesung eingeführt habe als das Medium der schriftstellerischen Arbeit, als das Mittel einer Produktion.« Hier möchte ich das Wort »tragisch« doch wieder in Anspruch nehmen. – Mit einem kaum vorstellbaren Willensaufwand gelang ihm die Fertigstellung des vierten Bandes der Jahrestage . Das war er der Gesine Cresspahl schuldig, ihrem Kind Marie, dem Jakob und der Ingrid Babendererde. Bei allen diesen seinen Personen sah dieser Autor sich in der Pflicht.
Über das meiste, das wir an jenem Nachmittag noch miteinander sprachen, werde ich schweigen. Es gab Sätze, die mich erzittern ließen vor Mitgefühl, andere, die mich erschauern ließen vor Ablehnung und Schrecken. Seine Wunde war immer noch offen. Ich wußte, daß man ihn nicht trösten, ihm nichts abhandeln konnte von seinem Schmerz. Mein Versuch, an sein menschliches Verständnis als Autor für eigene Fehlhandlungen und für das Fehlverhalten anderer zu appellieren, wurde mit immer demselben Satz abgewehrt.
    Wieder kam er
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