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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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Glück bemerkt er dann nicht, daß der drei Minuten früher abfährt als angekündigt. Als er ins Auto einsteigt, sagt er: Nun fühle ich mich wieder wie ein schuldiger Greis. Mit seinem ab
wegigen Schuldbewußtsein (wie ich es damals noch sah) baut er in den anderen auch ein Schuldgefühl auf, und er akzeptiert keine Richtigstellung. – Unsere Töchter, sagt er später am Telefon, hätten ihn doch verabscheuen müssen, häßlich wie er sei. Unsere Töchter waren hingerissen von ihm, das glaubte er einfach nicht.
    Unterwegs sagt er: Die Dörfer hätten als authentische Kulisse für den Film Affäre Blum dienen können, das scheint ihm zu gefallen. Er spricht über den Tod der Bachmann, mißtraut der offiziellen Verlautbarung, will wissen, was mir am meisten von ihr gefallen habe. Ja, sagt er, Was ich in Rom sah und hörte sei eine der besten Sachen, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden.
    Auf dem Bahnsteig möchte er, daß ich meine Brille wieder abnehme. Ich tue es. Ja, sagt er, viel besser. Auf dem Bahnsteig sagt man immer die dümmsten Sachen, nicht? – Er bedankt sich für den Nachmittag, steigt in die S-Bahn ein. Als sie anfährt, ehe die Türen zugehen, beugt er sich heraus und macht mit zwei Fingern das V-Zeichen. Dieses Bild hat sich mir eingeprägt, ich kann es mir jederzeit wieder heraufrufen.
    In diesem Nachmittag, in dieser ersten Begegnung, war, ohne daß ich das schon wissen konnte, »in der Nußschale« alles enthalten, was ich später nach und nach an ihm entdecken und mit ihm erleben sollte: daß er zu den Menschen gehörte, über die der Spruch verhängt war: So und nicht anders zu sein. Hinter dem auffallenden »noli me tangere«, das wie Anmaßung und Hochmut aussehen konnte, in den späteren Jahren wohl Einsamkeit verbarg, seine tiefe Sehnsucht nach Bindung, an die er dann aber unerfüllbare Ansprüche stellte, so daß sie zu seiner qualvollen Enttäuschung nicht ewig hielt. Dann der schwere, unendlich schmerzliche, traumatische, langwierige Prozeß, sich aus einer solchen Bindung zu lösen, der bis zur seelischen Katastrophe führen konnte und den Kampf mit einem inneren Widerspruch, der bei jedem Schriftsteller, aber bei ihm besonders, zu den wichtigsten Schreibantrieben gehört, lahm
legte bis zur Schreibunfähigkeit. Unendlich verletzlich sein und zugleich unduldsam die höchsten Ansprüche auf Vollkommenheit stellen, an sich und andere.
    Einmal endete ein Besuch bei ihm in Westberlin, zu dem uns sein Freund Max Frisch mitgenommen hatte, in einem erbitterten Streit, den allerdings nur er und seine Frau Elisabeth, die rigoros war wie er, bestritten: Sie warfen mir vor, daß man in der DDR nicht kompromißlos schreiben könne. Nun war mir dieses Problem ja täglich bewußt, ich versuchte, ihnen darzulegen, wie ich damit umging. Sie wollten nichts davon hören und blieben bei ihren Anklagen. Max Frisch versuchte zu schlichten. Später sagte er, solche Szenen erlebe er bei Johnsons häufiger. 
    Uwe Johnson gab mir zu denken.
    Als er bei uns war, hatte er mir gesagt, das Buch, an dem er jetzt schreibe, habe in einem Jahr fertig sein sollen, er habe sich vorgenommen, an jedem Tag den vorhergegangenen zu beschreiben, und ein Stück Vergangenheit dazu, jeden Tag zwei bis drei Seiten. Jetzt arbeite er fast sieben Jahre daran. Er gehe jeden Morgen um zehn ins Büro, nehme sich eine Thermosflasche Kaffee und belegte Brote mit, dann erledige er zuerst die Post, über die er sich beklagte, das sei gerade sehr viel, weil seine Bücher in Schulen gelesen würden, aber man merkte, daß er stolz darauf war. Abends um sechs gehe er nach Hause. Von den Jahrestagen , einem der großen Projekte der deutschen Nachkriegsliteratur, waren da schon drei Bände erschienen. Mit einer schier unglaublichen Präzision wurde ein schier unüberschaubarer Personenkosmos durch deutsche Vergangenheit und Gegenwart – besonders die Geschichte Mecklenburgs – geführt und zugleich ein Jahr der Nachkriegsgeschichte der USA dargeboten: Eine verzwickte, äußerst ergiebige Konstruktion, die vom Autor über die Jahre hin ein Übermaß an Konzentration und Fleiß verlangte. War ihm bewußt, daß er sich damit als einer der bedeutenden, bleibenden Autoren in die Geschichte der deutschen Literatur einschrieb?
    Hat es ihn, wenn er sich dessen bewußt war, vor der letzten Verzweiflung bewahrt?
    Über Begegnungen will ich berichten. Erst zehn Jahre nach dem dritten konnte der vierte und letzte Band der Jahrestage erscheinen.
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