Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
Vom Netzwerk:
alt.
    Schütteres weißes Haar fiel ihm in einzelnen Strähnen über die Schultern.
    Zwei Armlängen entfernt stand eine Staffelei mit einer strahlend weißen Leinwand.
    Der Alte schien beschäftigt und machte sich nicht die geringste Mühe aufzublicken. Er war unheimlich. Er strahlte etwas Beklemmendes aus.
    Tom spazierte unbeirrt durch den Raum. Mit langen, bedächtigen Schritten, wobei er aber penibel darauf achtete, nicht auf ein einziges der herumliegenden Blätter zu treten.
    Auf dem Papier sah man alles. Einfach alles. Menschen, Häuser, Straßen, Tiere, Obst – ja selbst Sonnenstrahlen oder Schneeflocken. Die ganze Wirklichkeit der Welt schien in Bleistift- und Kohlestrichen hier in diesem Raum abgebildet zu sein. Doch waren es keine hellen Zeichnungen, sondern düstere.
    Hell dagegen war der Raum. Auf unangenehme Weise hell, denn die Berge weißen oder vergilbten Papiers bestimmten ihn ebenso, wie das schmutzig staubige Nachmittagslicht, das hereinfiel. Bedrohliche Helligkeit. Triste Helligkeit.
    Doch durch die Zeichnungen sprang einem ein dunkler Geist entgegen. Geprägt durch niedere Gefühle wie Machtgier und Rachsucht und durch ihre Perfektion. Es war, als würde man jede Abbildung durch ein finsteres Glas betrachten. Nicht unbedingt durch eine Sonnenbrille, sondern eher durch eine Brille, die den Tag zur Nacht werden ließ. Wirklich zur Nacht. Nicht durch verdunkelte Brillengläser, sondern durch Gefühle, die einem durch jedes der Bilder in die Augen strömten.
    Â»Lass dich nicht von den Bildern in Besitz nehmen!«, raunte Tom. »Du wärst nicht die erste Unglückliche.«
    Lara fuhr zusammen.
    Sie wusste sofort, was Tom meinte.
    Oder sie konnte es erahnen. Wie einen Geruch oder einen Geschmack, den man vergeblich versucht zu erkennen, so wusste Lara, dass Tom mehr als recht hatte. Sie musste auf der Hut sein. Dieser Ort zeigte sich unverhohlen boshaft. Denn manche Orte sind so.
    Der buckelige Mann indes hatte sich noch immer nicht umgedreht.
    Doch bildeten sich dunkle Flecken auf der Leinwand. Ganz von allein. Mehr und mehr. Nach wenigen Sekunden begann die Farbe, Worte zu formen.
    Guten Tag , stand dort.
    Â»Hallo«, entgegnete Tom in Richtung des Mannes, der gerade seine Arbeit beendet zu haben schien und sich endlich zu ihnen umwandte.
    Lara sog die Luft scharf ein, beherrschte sich aber. Zusammengekniffene, nachtschwarze Augen starrten sie an. Umgeben von Falten, die wie altes, ausgetrocknetes Papier waren. Unter einer hakenförmigen Nase war ein zusammengepresster Schlitz, der einmal ein Mund gewesen sein mochte.
    Ah. Tom Truska. Baltasar schickt also seinen Handlanger, ängstlich wie er ist ?, schrieb die Leinwand.
    Laras Herz raste bis zum Hals. Das war nicht nur unheimlich, nein, das war einfach nur irre. Hatte sie bis heute geglaubt, King oder Barker seien Meister des Horrors und besäßen eine blühende Phantasie, wurde sie spätestens jetzt eines Besseren belehrt.
    Nur auf Tom schien die gruselige Erscheinung keinen Einfluss zu haben.
    Â»Ich würde es eher vorsichtig nennen, Nicolaes.«
    Aber, aber. Wovor sollte er sich fürchten? Wir haben doch sogar schon zusammengearbeitet. Und unsere Arbeit war gut, will ich meinen. Vielleicht die beste aller Zeiten.
    Â»Darüber kann man sicherlich geteilter Meinung sein.«
    Der Alte stand auf. Langsam, als wären seine Knochen aus Glas, schlurfte er – zu Boden gedrückt von seinem Buckel – zu einer seiner Schreibtischschubladen, zog sie weit auf und begann, darin herumzukramen.
    Du bist wirklich ein bemerkenswerter junger Mann, Tom, dass du dir solche Frechheiten erlauben kannst. Du hättest Maler werden sollen, nicht so ein verlauster Mechaniker.
    Â»Ich hätte es nicht gekonnt, das weißt du«, erwiderte Tom und fügte noch etwas hinzu, vielleicht, um seinen Worten einen Hauch von Endgültigkeit zu verleihen: »und auch niemals gewollt.«
    Eine Hand von Nicolaes winkte ab, während die andere weiter in der Schublade wühlte.
    Ich weiß, ich weiß. Du bist stolz. Und stolz wirst du sicherlich auch einst sterben. Indes, wer ist die junge Miss dort bei dir?
    Â»Das erfährst du sicherlich bald«, hörte Lara Tom sagen, und eine gewisse Befriedigung, die in seiner Stimme lag, blieb auch ihr nicht verborgen.
    Schließlich fand Nicolaes, was er gesucht hatte. Er wankte langsam zu Tom herüber, bis er ganz nah war.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher