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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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träumte.

    Â»Hallo Tom«, rief Lara beschwingt, als sie am Nachmittag durch die Ladentür stürzte. Tom sah kurz von seiner Arbeit auf und registrierte sie. Er war skeptisch, was Lara anging. Niemand hatte ihm jemals alles erzählt von dem, was vor all den Jahren geschehen war, aber er war nicht dumm. Es gab sogar solche, die behaupteten, Tom sei ein Genie, doch davon wollte er wiederum nichts wissen. Genies waren diejenigen, die von überall her umworben wurden, um selbstsüchtigen Projekten ihre Einzigartigkeit zu verleihen. So jemand war Tom nicht und somit wahrscheinlich auch kein Genie.
    Er hob die Hand zu einem Gruß über die Schulter hinweg, als sich seine Augen schon längst wieder auf das winzige Zahnrad hinter seiner Lupe konzentrierten.
    Baltasar kam die Treppe herunter. (Er hatte Lara sehr schnell das Du angeboten. Er hatte gemeint, er halte nichts davon, Leute zu siezen und von Titulierungen wie Meister, Lehrer oder sonstigen schon gar nichts.)
    Â»Hallo Lara«, begrüßte er sie mit einem Lächeln.
    An Tom gewandt fragte er: »Und? Wie steht’s um den Schlüssel für Nicolaes?«
    Â»Seit gestern Abend fertig«, murmelte der Gefragte, ohne aufzusehen.
    Â»Gut«, meinte Baltasar. »Dann liefern wir am besten gleich heute. Ich möchte, dass du Lara mitnimmst.«
    Klirrend fiel die Zange auf den Holzfußboden. Rasch hob Tom sie wieder auf und blickte Baltasar an.
    Â»Wozu?«, fragte er.
    Â»Um ihr zu zeigen, worin unsere Arbeit besteht, anstatt sie nur Metalle und Rohlinge sortieren zu lassen?«
    Â»Hm«, machte Tom.
    Dann legte er die Zange weg, stand auf und ging ins Hinterzimmer.
    Â»Bin gleich zurück, brauche nur etwas Warmes«, murmelte er.
    Etwas unsicher erlaubte sich Lara eine Frage.
    Â»Mag er mich nicht? Ich meine, wenn nicht, könnte er es sagen.«
    Baltasar zog eine Augenbraue nach oben, dann schmunzelte er.
    Â»Ich denke nicht, dass er dich nicht leiden kann«, sagte er. »Aber Tom ist, na ja, sagen wir, nicht immer ganz durchschaubar. Dafür hat er seine Gründe. Aber sei so gut, und frag ihn nicht danach.«
    Lara nickte.
    Â»Aber ich finde auch«, führte Baltasar seine Erklärung weiter, »dass er es einem nicht immer einfach macht, ihn zu mögen. Doch glaub mir, ich möchte ihn nicht missen. Er ist einfach sagenhaft geschickt!«
    Aus dem Hinterzimmer kam Tom zurück, in einen langen, dunklen Lodenmantel gehüllt. Irgendwie machte er einen imposanten Eindruck auf Lara. Groß, blass, mit dem zerzausten schwarzen Haar und dem Dreitagebart. Dunkel gekleidet von Kopf bis Fuß. Er sah Lara an. Nicht freundlich, nicht unfreundlich. Vielleicht etwas abschätzig.
    Â»Komm«, meinte er.
    Und Lara, die immer noch Mantel, Schal und ihre sorgfältig drapierte Mütze trug, legte ihren Schulrucksack in eine Ecke und folgte Tom eilig zurück ins Hinterzimmer. Dorthin, wo von nun an viele Reisen beginnen würden. Aber das wusste Lara McLane nicht. Noch nicht.

    Ob die Menschen irgendwann aufhören, an Wunder zu glauben, wenn sie ihnen jeden Tag widerfahren? Ein wenig seltsam war es nämlich schon. Tom trat einfach so durch die Tür in die Gasse mit den schmalen Häusern hinaus, als ob es nichts Normaleres auf der Welt gäbe. Ein paar Menschen gingen vorbei, schienen ihn aber nicht zu bemerken. Lara zögerte. Zwar hatte ihr die Praxisstunde mit Baltasar im Starbucks vor ein paar Tagen unmissverständlich klargemacht, dass das alles kein Schabernack war, aber dennoch war es einfach unglaublich.
    Â»Nun komm schon«, drängelte Tom.
    Er hatte sich umgedreht und die Arme vor der Brust verschränkt. Lächeln oder gar lachen hatte sie Tom in den wenigen Tagen ihrer Bekanntschaft noch nicht gesehen. Sie hatte schon einige Überlegungen dazu angestellt, doch keine wollte passen, sobald sie sein Gesicht vor sich sah. Tom wirkte nicht wie jemand, der das Lächeln verlernt hatte. Eher wie jemand, der ein Lächeln wie den kostbarsten aller Schätze hütete.
    Sie schüttelte einmal kurz den Kopf, riss sich zusammen und machte die entscheidenden Schritte durch die Tür, nur um dahinter ebenso sprachlos wieder stehen zu bleiben.
    Eine Straße verlief vor ihren Augen. Das war an und für sich nichts Besonderes. Besonders machte die Straße erst die Tatsache, dass sie aus Wasser war.
    Sie selbst stand auf einer Art breitem Gehweg. Hinter ihrem Rücken und
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