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Rappen lernen

Rappen lernen

Titel: Rappen lernen
Autoren: Mark Greif
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betreiben heute in praktisch all unseren Interaktionen eine Art Selbstmarketing, ohne zwischen privater und geschäftlicher Zuneigung zu unterscheiden. Wir tauschen imaginäre Einheiten von Zeit und Aufmerksamkeit gegen irgendwelche Formen von freien Inhalten und eine allzu aufdringliche Präsenz ein, wodurch wir die Prinzipien der Werbung und der Markenbildung gleichsam normalisieren und zu etwas Natürlichem machen. Man sollte das Internet weder verdammen noch als Allheilmittel feiern, aber wir neigen inzwischen dazu, diesen prinzipiell berechtigten Amoralismus bezüglich des Netzes auch auf Phänomene zu übertragen, die das Internet lediglich als neuen Kanal nutzen (dämliche Reklame, zynisches Marketing usw.), weil ihre klassischen Distributionskanäle vorübergehend nicht so richtig funktionieren.
    Allerdings kommt mir in diesem Zusammenhang auch eine von Aktivisten verfasste Analyse mit dem Titel »Where was the color in Seattle?« in den Sinn, die nach den Protesten gegen die Welthandelsorganisation im Jahr 1999 zirkulierte. Sie erinnert mich immer wieder daran, dass sowohl dem Postpunk, zu dessen Mekka die Heimatstadt von Nirvana geworden war, als auch der Bewegung, deren Zentrum die Stadt Ende des 20. Jahrhunderts darstellte, eine schwarze Dimension fehlte.
    Die Wahl Obamas als dem Fackelträger der Hoffnungen Amerikas im Jahr 2008 war die einzige wunderbare Erscheinung in über einem Jahrzehnt. Sie zeigte, dass das Amerika, an das ich und andere Menschen glaubten und glauben – und zwar auf beiden Seiten der rassischen Demarkationslinie – möglich war und immer noch mög 57 lich ist. Der Enthusiasmus für die amerikanische Demokratie fand dabei immer seine Entsprechung im Enthusiasmus für die amerikanische Sprache. Zu ihren besonders attraktiven Kennzeichen zählen ihre Freizügigkeit, Offenheit, ihre vielfältigen Ursprünge, die Schwierigkeit, sie »richtig« zu gebrauchen, die Tatsache, dass sie immer dann besonders großartig klingt, wenn sie abweichend verwendet wird; ihre witzige Obszönität; ihre Redundanz und ihr Überfluss, die sich permanent erneuern.
    Unsere Sprache kostet nichts. Sie gehört uns allen. Man kann sie nicht privatisieren. Die Fähigkeit, geschickt mit Worten umzugehen, ist zu einem Kennzeichen der Armen geworden, der Minderheiten, der ganz normalen Leute, der Schriftsteller und Intellektuellen; all jener also, die sich keine Bilder leisten können, die gemeinsam in einer älteren Welt leben, in der es keine Bilder gibt, oder die ganz bewusst darauf verzichten, sie zu benutzen.
    Das Gedächtnis des Hip-Hop ist intakt. Die »Gat«, die ein Gangster aus dem Hosenbund zieht, erweckt die Ära des Bürgerkriegs und des Gatling-Maschinengewehrs zum Leben. Das »Skrilla« (Bargeld), das Rapper aus dem Süden heute akkumulieren, erinnert an die »Scrips« (Bezugscheine, A.d.Ü.), mit denen die Schwarzen unter dem alten Agrarregime der Post-Reconstruction-Periode entlohnt wurden. Im offiziellen Amerika hingegen erleben wir (seit John F. Kennedy) Präsidenten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Fernsehleute, die sich dieses reiche Amerikanisch abtrainiert haben. Was aus ihrem Mund kommt, klingt, als hätten sie einen Dachschaden. Alles, was auf Fox, CNN oder den 24-Stunden-Nachrichtensendern verlautbart wird, verherrlicht die Bilder zu Lasten der Sprache. Die Bilder sind wichtiger als die ei 58 gentlichen Nachrichten, die in der Demokratie über das berichten sollten, was auch immer gerade in der Gemeinschaft der Bürger geschieht.
    Unterhalb dieser offiziellen Ebene, auf der wir einen dramatischen Niedergang der Sprache erleben mussten, wurden ihre Reichtümer verwahrt und gemehrt, allerdings auf der anderen Seite jener roten Linien, mit denen weiße Immobilienmakler und Stadtentwickler die Schwarzen und die Weißen voneinander fernhalten. All die alten amerikanischen Wörter wurden in den heruntergekommenen Reihenhäusern und Sozialsiedlungen gesammelt. Einmal mehr sieht man, zu welchen kreativen, ja genialen Leistungen die Menschen in der Lage sind, wenn man sie ignoriert und alleine lässt.
    Meine Großmutter sprach zu Hause ein amerikanisches Englisch voller Anspielungen, Zitate, Witze, Formeln und Begriffe, die sie aus dem Jiddisch ihrer Kindertage, aus dem Spanglischen oder Frenglischen entlehnt, aus der Populärkultur übernommen oder auf der Straße aufgeschnappt hatte. Ihre Sprache war viel reicher als das zurechtgestutzte Englisch, das sie in ihren Jobs bei der
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