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Rappen lernen

Rappen lernen

Titel: Rappen lernen
Autoren: Mark Greif
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Körper wegzieht. Er wirbelt sie durch die Luft und lässt sie auf den Boden krachen wie ein Alphamännchen, das einen unterlegenen Affen über die Schulter wirft, oder Bruce Lee, der mit seinem Kung Fu reihenweise tollpatschige Gegenspieler außer Gefecht setzt. Dass er dafür nur seine musikalischen Talente benötigt, stellt Nas in der zweiten Zeile klar:

    »Musician, inflicting composition«

    Mein Problem war aber zunächst einmal die erste Zeile, und irgendwann kam mir die Sache aussichtslos vor. Die 10 erste Zeile besteht aus siebzehn Silben, verpackt in gerade mal zwei Takte, acht Beats in einem schnellen Vier-Viertel-Takt. Für mein Ohr setzt der Gesang leicht verzögert ein, nach einer Viertel-Pause, und die letzten Silben lappen in den nächsten Takt hinüber. Das Metrum ist nicht jener marschierende Jambus, den man von der englischen Versbildung kennt, es klingt eher wie ein Trochäus, vermittelt den Eindruck eines »fallenden« Rhythmus.
    Siebzehn Silben! Denken Sie zum Vergleich einmal an die etwa gleich lange erste Zeile von Elvis’ Version von »That’s All Right (Mama)« aus dem Jahr 1954, eine Art Startschuss in der Geschichte des Rock:

    »Well, that’s all right, Mama«

    Sechs Silben, die durch die Zäsur noch langsamer wirken, in der Zeit, in der Nas siebzehn unterbringt. Okay, man kann jetzt natürlich sagen, dass dieser Vergleich unfair ist, weil Elvis sich erst einmal richtig warm laufen musste. Nehmen wir also die erste Zeile von »All Shook Up«, das drei Jahre später aufgenommen wurde:

    »Well, bless-ah my soul, what’s wrong with me.«

    Neun Silben, in zwei Takten.
    Natürlich macht nicht die Anzahl der Silben die Qualität von Songtexten aus (das wäre so, wie wenn man eine Oper danach bewerten würde, wie viele Leute auf der Bühne stehen), sondern die Bedeutung der Worte und die Art und Weise, wie sie über den Rhythmus gelegt werden und wie der Interpret mit seinem Atem haushaltet.
    Was einem schnell auffällt, wenn man sich ein bisschen 11 mit Hip-Hop beschäftigt, ist, dass es sich dabei um eine viel komplexere lyrische Kunstform handelt als alles, was Rockmusiker in der Geschichte ihres Genres zuwege gebracht haben, und daran hat sich auch in den letzten zwanzig Jahren nichts geändert. (Ich habe festgestellt, dass Weiße in meinem Alter, vor allem aber, wenn sie noch etwas älter sind, immer sofort in paarreimige Couplets verfallen, wie wir sie von Kinderliedern kennen, wenn sie zu rappen versuchen; doch das macht seit dem Ende der Old-School-Ära vor etwa zwanzig Jahren kein professioneller MC mehr. Mit modernem Hip-Hop hat das in etwa so viel zu tun wie zeitgenössische Rockmusik mit den Bands aus der Zeit, in der es noch keine richtigen E-Gitarren ohne Resonanzkörper gab.)
    Es kostete mich eine Woche endlosen Hin- und Herspulens, bis ich »N. Y. State of Mind« halbwegs beherrschte. Wenn ich laut rappe, bekomme ich die Betonungen allerdings immer noch nicht richtig hin. Dazu kommt, dass meine Rap-Stimme eben wie die Stimme eines Weißen klingt, weshalb sie sich für mein Ohr (und ich fürchte für alle anderen Ohren auch) wenig anziehend anhört. (Ich habe immer sorgfältig darauf geachtet, dass niemand in der Nähe war, wenn ich übte.) Das Rappen lebt von Muskelbewegungen, für die mein Mund noch nicht bereit war, außerdem von enormer Konzentrationsfähigkeit und einer Präzision, die sich kaum über längere Zeit hinweg aufrechterhalten lässt. Fähigkeiten, die man schlichtweg nicht braucht, wenn man Rocksongs singt, und seien sie – wie etwa die von Bob Dylan – noch so wortreich.
    Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass ich ziemlich lange im Internet recherchieren musste, bis ich eine plausible Interpretation von Nas’ erster Zeile gefunden hatte. Da 12 bei stieß ich auf unzählige Webseiten, auf denen Exegeten über diesen Texten brüten – und es sind längst nicht alle Dispute über die richtige Auslegung ausgestanden.

    Ich bin in einem Vorort von Boston aufgewachsen. In meiner Kindheit war meine Großmutter praktisch immer präsent. Wenn sie nicht den Zug nahm, um das Wochenende bei uns zu verbringen, besuchten wir sie in ihrer Genossenschaftswohnung in der Nähe der Williamsburg Bridge auf der Lower East Side von Manhattan.
    Etwa zwanzig Jahre zuvor hatte die New York Housing Authority auf der anderen Seite der Delancey Street die Gompers Houses errichtet, nach einem Gewerkschaftsführer benannte Mietskasernen mit Sozialwohnungen. Zu diesem Zweck wurde
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