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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
Autoren: Friedrich Ani
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    » F ür wie lang?«, fragte die junge Frau an der Rezeption.
    Ich sagte: »Eine Nacht.«
    »Erwarten Sie noch jemanden?«
    »Nein.«
    Ihre geschwungene Brille mit der roten Fassung erinnerte mich an die einer Kollegin, die etwa im gleichen Alter wie die Hotelangestellte gewesen sein dürfte .
    »Das kostet aber fünfundneunzig Euro«, sagte sie .
    »Soll ich im Voraus bezahlen?«, sagte ich.
    »Nur hier ausfüllen, bitte.«
    Im Zimmer, das im ersten Stock lag, öffnete ich ein Fenster und blickte auf eine ungemähte Wiese mit Löwenzahn, Gänseblümchen und Glockenblumen, leuchtende Farben in der Mittagssonne. Und immer wieder, für Sekunden, vollkommene Stille. Vielleicht dirigierte der Wind die Geräusche und die Stimmen, den Singsang der Vögel, wobei er jede Pause in seiner kosmischen Partitur genau einhielt und sein Orchester ihm bedingungslos folgte.
    Bis zum Friedhof brauchte ich zehn Minuten. Seit mehr als zwei Jahren war ich nicht mehr dort gewesen, eine der örtlichen Gärtnereien kümmerte sich in meinem Auftrag um das Grab. Es sah so gepflegt aus wie die übrigen Gräber. Der graue, unauffällige Stein und die Umrandung wirkten sauber, als wäre beides kürzlich abgeschrubbt worden, aus der offensichtlich frisch gegossenen Erde wuchsen gelbe und violette Stiefmütterchen, in einer Plastikvase standen sieben rote Rosen und in der niedrigen, schmiedeeisernen Laterne mit dem aufklappbaren Deckel zuckte ein rotes Licht .
    Unwillkürlich wandte ich mich um. Beim Anblick der frischen Rosen und der kaum heruntergebrannten Kerze hatte ich mir plötzlich vorgestellt, jemand anderes habe soeben an meiner Stelle gestanden. Und ich bildete mir ein, einen süßlichen Geruch wahrzunehmen, und erwartete Schritte auf dem Kies.
    Aber da war niemand. Ich drehte den Kopf. Soweit ich erkennen konnte, befand sich außer mir niemand in der Nähe. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen .
    Siebzig Jahre wäre meine Mutter heute geworden. Sie starb, als ich dreizehn war, drei Jahre später verschwand mein Vater und tauchte nie wieder auf. Den Rest meiner Jugendzeit verbrachte ich bei der Schwester meiner Mutter und deren Mann, Lisbeth und Willibald, der mir verbot, ihn Onkel zu nennen, während Lisbeth sich in meiner Gegenwart immer selbst als Tante bezeichnete. Bis zum Tag meines Umzugs ins sechzig Kilometer entfernte München, genau einen Monat nach dem Abitur, umsorgte sie mich wie ein Kind, das seine Lebenstüchtigkeit in der gefährlichen Welt der Erwachsenen noch lange nicht bewiesen hatte. Manchmal ärgerte mich ihre Mamahaftigkeit, manchmal nervte sie mich, manchmal versöhnte sie mich mit der Abwesenheit meiner Mutter, manchmal wäre ich am liebsten weggelaufen.
    Die Kirchenglocken begannen laut zu läuten, und ich öffnete die Augen. Das Sonnenlicht blendete mich, und ich senkte den Kopf. In diesem Moment hörte ich hinter meinem Rücken ein metallisches Quietschen, es klang im Gleichklang der Glocken wie eine beleidigende Disharmonie.
    Mit beiden Händen stemmte ein Mann die Klappe des Abfallcontainers hoch, den Kopf tief in der Öffnung. Auf die Entfernung konnte ich nichts weiter als einen dunklen Mantel, der mir zu warm, für das Wetter völlig ungeeignet vorkam, und die breite Statur des Mannes erkennen. Vielleicht hatte er aus Versehen etwas weggeworfen, das er dringend wiederfinden musste, denn er rührte sich nicht von der Stelle. Solange ich hinsah, hielt er den Kopf gesenkt, die Arme schräg gegen den Deckel gestemmt, ohne jede Regung.
    Nach einigen Minuten, in denen ich nichts tat, als den Namen meiner Mutter Alma Süden auf dem Grabstein zu lesen, bückte ich mich und besprengte mit dem kleinen Latschenzweig aus der Messingschale, die sich in ähnlicher Form auf allen Gräbern befand, die Blumen mit geweihtem Wasser, eine willkürliche Geste. Erst hinterher fiel mir ein, dass ich vielleicht in der Luft ein Kreuz hätte formen sollen.
    Als ich den Friedhof verließ, hatten die Glocken aufgehört zu läuten, und der Mann am Container war verschwunden. Nahe der Kirchenmauer bemerkte ich eine mit Brettern bedeckte Grube und einen Erdhaufen daneben.
    Ich ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war, ohne jemanden zu beachten oder einen Blick auf die unvermeidlich vertrauten Bauernhäuser und Läden zu werfen. Abends, so hatte ich mir vorgenommen, wollte ich noch einmal das Grab besuchen. Anschließend würde ich im Restaurant meines Hotels trinken, bis
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