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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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oder vier Jahren, Willkomm und Abschied wird das genannt. Davor fürchtet sich Dieterle, aber die Furcht muss er bezwingen, und jetzt wächst ein großer Zorn in ihm, es macht ihm nichts aus, dass es auf der Rückfahrt zu gewittern anfängt, er wünscht sich, dass ein Blitz in die Menge schlägt, und wenn es ihn selber träfe und die Käther und die Dennele dazu, wäre es ihm egal. Doch kein Blitz trifft ihn, nur bis auf die Knochen nass werden sie alle im Wagen. Den toten Dad haben sie inzwischen wohl schon vom Strick geschnitten, Erde werden sie über ihn tun, dazu große Steine, damit ihn kein Tier ausgräbt. Seine Seele ist verreist, aber wohin denn? Und muss man sich fürchten vor einem Mulo, einem Totengeist, wenn man dem Lebenden nichts zuleide getan hat? Alles so leer, weil es den Dad nicht mehr gibt, den Dad, der so fröhlich sein konnte, so wütend, so zärtlich, so böse.
     
    In dieser letzten Nacht kommt Dieterle wieder zu den Männern. Was hat dieses Hin und Her für einen Sinn? Könnte man ihn nicht selbst entscheiden lassen, ob er noch ein Kind ist oder keins mehr? Aber er weiß, dass sie noch lange über ihn, den Zigeunerjungen, entscheiden werden, so lange, bis ihm die Flucht glückt und er sich in den Wäldern verstecken kann. Die Nacht will nicht vergehen, Bastardi seufzt in einem fort, Geuder hat sich in der Ecke übergeben, und es riecht noch übler als sonst. In den letzten Tagen scheint er geschrumpft zu sein; er sagt kaum noch ein Wort, bewegt sich nicht, es ist fast, als ob er sich unsichtbar machen wolle. Ohne seine Geige ist er schon lange nicht mehr der Musikant, der er war.
    Sie werden aufgescheucht, bevor die Hähne krähen, sie werden hinausgetrieben, gefesselt, es gibt einen Wagen für Ludwigsburg, einen für die Festung. Noch ist alles nass vom Regen, Wasser tropft vom Kastanienlaub, auf dem Wagenboden bilden sich Pfützen. Dieterle hat keine Zeit, von Bastardi und vom stummen Geuder Abschied zu nehmen. Plötzlich sind sie auf dem andern Wagen und Dieterle wieder bei den Frauen. In Ludwigsburg, so viel ist sicher, wird man ihn auch von der Daj trennen.
    Der Schreiber steht dabei mit einer Namensliste, ein wenig gebeugt, nicht bucklig, aber fast. Er hat befohlen, wer wohin muss. »Ich werde dich in Ludwigsburg besuchen«, sagt er in einem geheimnisvollen Ton zu Dieterle und lächelt ihn an. Dieterle gibt keine Antwort. Was hilft es denn, wenn man im Waisenhaus Besuch bekommt? Man ist verloren ohne einen Dad, der einem den Weg weist. Sie haben ihn getötet. Aber vielleicht ist nun Tonis Geist endlich zufrieden, vielleicht erscheint er Dieterle nachts nicht mehr in seinen Träumen.
    Sie fahren eine Weile am Neckar entlang, der aussieht, als fließe er weder vor- noch rückwärts, gar kein Fluss ist das, auch die Weidenzweige, die ins Wasser hängen, bewegen sich kaum.
    »Fünf Stunden bis Ludwigsburg«, sagt der Aufseher neben dem Kutscher auf dem Bock. Der Mann, der ununterbrochen Tabak kaut, ist mitteilsam. »In Ludwigsburg werdet ihr ein Schloss sehen«, er schnalzt bewundernd mit den Fingern, »gerade so prachtvoll, wie das Schloss des französischen Königs ist.« Er lacht behäbig. »Zucht- und Waisenhaus stehen gleich gegenüber. Da seht ihr tagtäglich, wem ihr Gehorsam schuldet.«
    Die Bremin spuckt aus. »Das Schloss braucht Ihr uns nicht zu beschreiben, von mir aus kann es gleich einstürzen.«
    »Gotteslästerliche Reden sind das!«, empört sich der Aufseher, er nimmt dem Kutscher die Peitsche aus der Hand und will damit die Bremin treffen, schwingt sie aber so ungeschickt, dass das Ende der Schnur über Käther und Dieterle zuckt. Erschrocken ducken sich beide, dennoch wird Dieterles Wange leicht geritzt.
    Wo mag der Dad jetzt sein?, denkt Dieterle und streicht sich Spucke über die brennende Stelle. Er will die Frage nicht, doch sie hat sich festgehakt, sie wiederholt sich wie die Töne eines Leierkastens. Wer sagt, er wisse, wo die Toten hinkommen, der lügt.
     
    Sulz am Neckar, den 14. September 1787
     
    Lieber Freund,
    Ihr so erfreuliches Lebenszeichen, das mich unlängst erreichte, hätte gewiss eine baldigere Antwort verdient, umso mehr, als Sie ja die Insektenexemplare, die ich Ihnen von unserer Schweizer Expedition zusandte, mit großer Klarheit zu bestimmen wussten. In unserem Sulz haben sich aber die Ereignisse seit der Ankunft der Hannikelbande überstürzt. Eines reihte sich ans andere, ich protokollierte Tag für Tag die Verhöre und war davon so in Anspruch
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