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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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lieblichste erklingen.
     
    Sulz am Neckar, 17. Juli 1787
     
    Sie werden den Dad töten. Bald wird er vor dem höchsten Richter stehen, und der wird ihn in Gnade empfangen, denn der Dad hat bereut und gebeichtet. Man darf gegen die, die den Dad aufhängen lassen, keine Rache schwören, sagt die Daj zu Dieterle. Aber Dieterle kann nicht anders, er stellt sich vor, wie er eines Tages Rache nehmen wird. Nachts flüstern er und Bastardi miteinander und versprechen sich, dass sie am Tag der Rache einander beistehen werden. Zum Glück hört es die Mutter nicht, die in einer anderen Kammer liegt, sonst wäre sie betrübt und würde wieder nichts essen, sie ist schon viel zu mager geworden, man sehe beinahe durch sie hindurch, hat Wenzel gesagt. Auch er wird sterben, Duli wird sterben, Nottele wird sterben. Sie haben es Dieterle nicht sagen wollen, aber er hat alles erraten, als die Männer von der Stadt da waren, und nun sind sie alle vier, der Dad, Wenzel, Duli und Nottele, zuoberst im Rathaus und warten auf den Gang zum Richtplatz.
    Gestern waren sie beim Dad, der noch in einem richtigen Bett schlafen darf, bevor sie ihn töten. Er hat sie alle gesegnet und geküsst, er hat gesagt, sie würden sich wiedersehen. Doch Bastardi glaubt nicht daran, er hat gesagt, wer tot ist, ist tot, sie werden die Leichen verscharren, und wir können nur hoffen, dass nicht Füchse sie ausgraben und Krähen an ihnen herumhacken. Dieterle denkt jetzt daran, was der Dad zuletzt noch in ihrer Sprache gesagt hat: dass die Söhne fliehen sollten, wenn sie könnten, weg und über alle Berge. Die Sinti müssten sich zusammenschließen, um stark zu sein, und deswegen müssten sie in den Wäldern die anderen Reinhardts finden, Dutzende gebe es, dort könnten sie ein neues Leben beginnen, immer auf der Hut vor den Landjägern und Soldaten. Dieterle hat es dem Dad versprochen, und er hat sich vorgenommen, dem Schäffer eines Tages mit ein paar Getreuen aufzulauern und ihn gefangen zu nehmen. Sie würden ihn fesseln, sie würden ihn verhöhnen und ihm ins Gesicht spucken. Und dann würden sie ihn vielleicht aufhängen, wie sie es heute mit dem Dad tun wollen. Wenn man den Knoten richtig knüpft, bricht es einem beim ersten Ruck den Hals, und man muss nicht unnötig leiden.
    »Sie zwingen uns zuzuschauen, wie der Dad und die anderen sterben«, hat Bastardi gesagt und drei Mal ausgespuckt, »auch das verdanken wir dem Schäffer.« Das ist die ärgste Strafe, schlimmer als alles, was nachher kommt. Nachher werden sie die Männer auf die Festung bringen, die Frauen mit den Kleinen und Dieterle nach Ludwigsburg ins Zuchthaus. Gewiss wird man von dort fliehen können, es kommt bloß darauf an, wie hoch die Mauern sind.
    Die Wache hat sie früh geweckt an diesem Morgen, noch vor Sonnenaufgang. Lange müssen sie, Frauen und Männer getrennt, draußen vor dem Gefängnis in der Morgenkühle warten. Es ist aber schon ein großer Lärm in der Stadt, von allen Seiten und zu Hunderten sind nachts die Leute gekommen, die dabei sein wollen, wenn der große Räuber Hannikel sein Leben verliert. Viele warten bereits auf dem Marktplatz, sie warten, bis die Übeltäter ein letztes Mal vors Gericht treten und der Stab über sie gebrochen wird. Tausende werden es dann sein, die zum Galgenbuckel hinaufmarschieren und sich auf der gemähten Wiese zusammendrängen und um die besten Plätze streiten, noch nie hat Sulz etwas Vergleichbares gesehen. Das sagen die Wachsoldaten, Männer in blauer Uniform, mit Säbeln und Gewehren, und man weiß nicht, ob sie die Sinti verspotten oder doch ein wenig trösten wollen. Ein Stück Brot bekommen die Gefangenen, sogar einen Zipfel Wurst, dazu Wasser, mit etwas Milch vermischt. Bastardi gießt es sich über den Kopf und schüttelt sich wie ein nasser Hund. Den Dad wird Dieterle nicht mehr von nahem sehen, überhaupt wäre es ihm lieber, ihn gar nicht mehr zu sehen, schon gar nicht als Toten, der am Strick hängt. Daran zu denken, zerreißt Dieterle fast, ihm ist, als falle er selbst von der Leiter ins Leere und der Ruck gehe gewaltig durch ihn, er möchte laut hinausschreien, in die Stadt hinaus, zum Wald hinüber: Was tut ihr denn? Was tut ihr denn?
    Die Daj steht drüben in der anderen Gruppe, zusammen mit Dennele, der Bremin, der Theres, der Urschel mit der Kleinen auf dem Arm, alle in langen Sintiröcken, die man ihnen für diesen Tag wieder gegeben hat. An Theres’ Beine schmiegt sich der dreijährige Hannes; wie stark er gewachsen
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