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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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dorthin, wo der Wald anfängt. Ein gewaltiges Raunen und Summen ist in der Luft, Marktschreier preisen Erfrischungen an, und Soldaten riegeln das Gerüst mit dem Galgen vor den Zudringlichen ab, die sich noch näher drängen. Die Sinti müssen von den Wagen hinuntersteigen, man weist ihnen Plätze zu, von denen aus man das Gerüst mit den Leitern und dem Querbalken, an dem vier Stricke hängen, gut sieht. Die Frauen auf der einen, die Männer auf der anderen Seite. Die Verurteilten werden zu ihren Leitern geführt, die Geistlichen stellen sich hinter ihnen auf. Dem Dad wird, als Einzigem, ein Stuhl zugewiesen. Er sei der Wichtigste, murmelt die Bremin, man wolle verhindern, dass er ohnmächtig werde.
    Dieterle, neben Käther und der stumm gewordenen Dennele, möchte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, auch die Baba nicht, die man als Einzige wieder sitzen lässt und die in hohen Tönen wimmert, ärger noch als Urschels Kleine. Und doch geht es nicht anders, als hinzustarren, wie wenn er damit etwas ändern könnte. Gar nichts kann er. Alle Räder des Mahlwerks greifen ineinander, hat Bastardi am Morgen gesagt, die Mühlsteine sollen uns zermalmen. Und während es in Dieterle kalt und eisig wird, nur die Wangen glühen, ist ihm, als würden sich seine Sinne erweitern wie bei einem witternden Tier, nun sieht er den Dad auf einmal genau, von ganz nahem, mit dem Kruzifix in den Händen, er sieht seine Falten, die eingesunkenen Augen unter den geschwollenen Lidern, er sieht, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, er hört ihn beten, er hört ihn die drei anderen ermahnen, dass sie Mut fassen sollen, der Herr Jesus werde ihnen verzeihen. Diese geschärfte Wahrnehmung ist aber nur von kurzer Dauer. Als der Scharfrichter mit Nottele die Leiter besteigt, als er ihm die Schlinge um den Hals legt und, wieder am Boden, die Leiter wegstößt, als beim Fall des Körpers Hunderte ringsum aufstöhnen, fängt vor Dieterles Augen alles an zu verschwimmen, Geräusche und Stimmen vermischen sich, er ahnt bloß, dass nun auch Duli und Wenzel an der Reihe sind, er glaubt, den Dad singen zu hören, und dann werden seine Ohren wieder riesengroß, denn der Dad ruft nach ihnen, nach seiner Familie, er hat die Sprache gewechselt, auf Romani grüßt er sie, über alle anderen Stimmen hinweg. Nicht unschuldig sterbe er, sagt der Dad, aber es würden in Württemberg größere Verbrechen begangen als seine, und ihre Urheber sollten bestraft werden wie er. Dann empfiehlt er sich auf Deutsch der Heiligen Mutter Gottes in Maria-Einsiedeln. Die Klagerufe der Sintifrauen werden lauter, übertönen das Schluchzen der Kinder. Nun klettert der Dad wohl die Leiter hoch, aber Dieterle sieht es nicht, es wird so dunkel um ihn, als wäre schon Nacht. Ein Soldat, der nach saurem Wein riecht, hält ihn von hinten fest, sagt ihm drohend ins Ohr: »Sperr die Augen auf, Bursche!« Doch als Dieterle sie wieder öffnet, hängt der Dad schon da, zu viert hängen sie an den Stricken, einer neben dem anderen, wie weiß man denn, dass sie wirklich tot sind? Schäffer, der stolze Schäffer hat den Hut gezogen vor den Toten, und der Schreiber steht da, ohne sich zu regen. Ein Pfarrer hält eine Predigt, die der Wind, der aufgekommen ist, mit seinem Sausen übertönt. Manche schauen besorgt zum Himmel auf, dort mehren sich die schwarzen Wolken. Dieterle darf sich neben die Baba ins Gras setzen und legt den Arm um sie. Sie kann den Enkel nicht beschützen, so beschützt er sie. Hannikel habe nicht lange gelitten, sagt die Bremin, und Urschel weint immer noch, aber untröstlich ist jetzt Dennele. Die Frauen rücken zusammen, nehmen Dennele in die Mitte, das verwehrt ihnen niemand, denn es ist vorbei, der Dad ist tot, man wird ihn auf freiem Feld verscharren, und nun müssen sie zurück auf den Wagen. Warum die Männer tot seien, fragt Hannes ein ums andere Mal, und ob man Tote nicht wieder lebendig machen könne? Nein, antwortet Dieterle und fasst Hannes bei der Hand, aber man könne an sie denken. Urschel singt jetzt leise ein Lied, sie hat es von Geuder gelernt: Meine Mutter, weine nicht, / dass dein Sohn an fremdem Orte ruht, / hei Gott, dem Schöpfer der Erde, des Himmels, I die Erde ist nun seine Decke.
    Am nächsten Tag, das hat Bastardi schon am Morgen herausbekommen, wird man sie an ihre Bestimmungsorte bringen, auf den Hohentwiel und nach Ludwigsburg. In Ludwigsburg gibt es für die Sträflinge eine Tracht Prügel beim Eintritt und bei der Entlassung nach drei
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