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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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sich auf seinem Schreibpult. Sein Leben lang hat er geschrieben, unendlich viel Amtliches, das nun in Archiven verstaubt, dazu private Notizen, seltsame Reime manchmal, die er längst vergessen hat. Sein Augenlicht wird schlechter, die Schrift indessen immer kleiner, ameisenhaft geradezu, und er kann nichts dagegen tun, es ist, als ob seine zittrigen Finger geheimen Befehlen gehorchten. Wer soll all das, was er in letzter Zeit notiert hat, überhaupt lesen? Caroline, seine zweite Ehefrau, liegt unter der Erde, seine Tochter Sophie ist Vor Jahren schon mit Mann und zwei Kindern nach Amerika ausgewandert. Es gibt keinen Grund mehr, sich der Anstrengung des Schreibens zu unterwerfen, und trotzdem macht er weiter mit den Aufzeichnungen über das Leben der Hautflügler. Als Caroline gestorben war, begann er wieder mit den Forschungen, die er nach dem großen Brand im Jahre 1794 aufgegeben hatte. Er verlegte sich jetzt aber weit mehr auf Beobachtungen als aufs Sammeln. Bloß zwei Glaskästen hat er seit dem Brand mit genau klassifizierten Bienen- und Wespenarten gefüllt, der Rest ist Papier. Ganze Sonntagnachmittage verbrachte er mit dem Studium der Grabwespen. Wie viel gab es da zu bestaunen! Er entdeckte, dass bestimmte Grabwespen weit größere Feldheuschrecken mit ihrem Stachel lähmen, sie dann an den Fühlern zur kleinen Sandhöhle schleppen, die sie vorher ausgegraben haben, und in die Beute hinein ihr Ei legen. Die ausgeschlüpften Larven fressen sich durch diesen halb lebendigen Nahrungsspeicher, bevor sie sich, fett und träge geworden, verpuppen und nach etlichen Monaten in ganzer gelbflügeliger Schönheit ans Tageslicht kriechen. Grausam ist dies und zugleich in jeder Einzelheit überaus sinnvoll. Es lässt einen an der Güte Gottes zweifeln, und doch wird man ehrfürchtig vor solchen Zusammenhängen. Ist das Leben nichts anderes als ein Kampf von allen gegen alle? Und überlebt notwendigerweise der Stärkere, der Listigere?
     
    Von der Seele schreiben muss er sich aber jetzt dringend, was er an diesem Morgen erlebt hat, als er über den Markt ging. In einer gebeugt daherschlurfenden Alten glaubte er die Frankenhannesen Käther zu erkennen. Ein Schreck durchfuhr ihn, wie er ihn nicht für möglich gehalten hätte. Sie trug einen weit gebauschten, über den Boden schleifenden schwarzen Rock, der sie unförmig, ja ungeschlacht aussehen ließ, vielleicht, dachte er sogleich, hatte die alte Sackgreiferin ihre Beute darunter versteckt. Doch mit dem gesenkten Kopf und dem tief in die Stirn gezogenen Kopftuch schien sie kaum wahrzunehmen, was ringsum geschah. Woher sie kam, wohin sie ging, hätte der Schreiber nicht sagen können, auch nicht, weshalb sie ihn an Käther erinnerte, die doch auf ihre Weise eine schöne Frau gewesen war. Inmitten des Markttreibens versuchte er in ihre Nähe zu gelangen, einen Augenblick lang war er nur noch zwei, drei Schritte von ihr entfernt; er sah den traurigen Zustand ihrer Kleidung, er sah, dass sie die Hand zum Betteln ausstreckte, und verglich ihre verhärmten Züge, den Schnitt ihrer Nase mit dem Gesicht, an das er sich erinnerte. Dann wurde er von ihr abgedrängt und konnte seine Vermutung nicht genauer überprüfen. Dennoch stand in aller Deutlichkeit wieder die kahlgeschorene Frau vor ihm, die er letztmals vor über zwanzig Jahren im Zucht- und Arbeitshaus Ludwigsburg angetroffen hatte.
    Lange liegt dies alles zurück, und doch wird es nun wieder so lebendig in ihm, als wäre es gestern gewesen. Wie merkwürdig, wie schmerzhaft dieser Erinnerungszwang! Es ist doch seither Unglaubliches und Unausdenkbares geschehen. Das Städtchen Sulz, in dem er immer noch lebt, brannte ab und wurde wieder aufgebaut. Die Franzosen ermordeten ihren König, sie duldeten und bejubelten, dass ein Korse sich zu ihrem Kaiser machte, und von dessen Gnaden wurde aus dem Herzogtum Württemberg und dem Flickenteppich der Kleinstaaten ringsum ein Königreich. Wie viele der Menschen, die das Leben des Schreibers bestimmten, sind seit dem Richttag in Sulz gestorben: Herzog Karl Eugen, der das Land knechtete und auspresste, starb bald nach Hannikels Hinrichtung. Vor wenigen Monaten erst verschied der Oberamtmann Schäffer, und seinen Forscherfreund Fabricius, dessen zweiundvierzig Briefe sein größter Schatz sind, verlor der Schreiber am 3. März 1808. In all den Jahren, die sie sich schrieben, nahm er sich immer wieder vor, Fabricius wenigstens einmal zu treffen; doch nie ergab sich die Gelegenheit
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