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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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alle paar Sätze zum Schreien steigert. Dieterle versteht wenig davon, nur, dass Schäffer zornig von Unmenschen spricht, von Ungeheuern, er weiß, dass damit die vier Sinti gemeint sind, die wie betäubt vor sich niederblicken. Je schlimmer aber die Wörter sind, die Schäffer in die Menge wirft, desto lauter brandet der Beifall auf. Ganz still wird es wieder, als Schäffer die Rede beendet hat. Auf seinen Wink hin tritt der Mann mit dem Stab vor die knienden Verurteilten und zerbricht den Stab über ihren Köpfen. Danach ruft Schäffer, dass sie jetzt dem Scharfrichter übergeben würden, Herrn Belthle, der eigens aus Tübingen angereist sei, und der Mann mit dem schwarzen Hut gibt das Zeichen für die Aufstellung des Exekutionszugs.
    Wie eine heilige Prozession sehe das aus, sagt höhnisch die Bremin, als sich der lange Zug, mit den feierlich gekleideten Würdenträgern zuvorderst, endlich in Bewegung setzt, man bringe dem Gott der Ungerechtigkeit ein Menschenopfer. Ein Begleitsoldat weist sie zurecht, sie lacht ihn bitter aus, sein Säbel kann sie zum Glück nicht erreichen. Die Urschel weint wieder, laut und lauter, sie rauft sich die Haare. Die Baba, die sich auf die Daj stützt, hat zu wimmern angefangen, und Hannes, der sich nun fürchtet, stimmt auf kindliche Weise mit ein. Keine der Frauen hat noch die Kraft, ihn zu trösten. Dieterle weiß nicht, wo er sich im schaukelnden Wagen festhalten soll. An die Daj möchte er sich lehnen, doch das geht nicht. Und umklammert er das Wagengeländer, ist er zu nahe bei den nebenhermarschierenden Soldaten, die nur auf die Gelegenheit zum Dreinschlagen warten.
     
    Wie lange die Fahrt zum Galgenbuckel dauert! Wie mühsam es für die Pferde ist, die Wagen den Hang hinaufzuziehen! Es wird wärmer, die Soldaten schwitzen und keuchen, sie fluchen, wenn die Kolonne ins Stocken gerät. Hinter dem Frauenwagen rumpelt der Männerwagen mit Bastardi und den anderen, und hinter ihnen gehen die vier im langen Büßerhemd, über das sie alle paar Schritte stolpern. Jeder wird von einem Geistlichen begleitet, aber nur von evangelischen, die doch der Dad gar nicht wollte. Der Pfarrer Reininger, der dem Dad die Beichte abgenommen hat, ist vorausgegangen, er wird ihn von weitem segnen.
    Meist ist Dieterle die Sicht auf ihn verdeckt, und wenn er ihn in einer Kurve erblickt, denkt er, dass der Dad bald nicht mehr kann, denn er geht gebeugt und schleppend, er zieht ein Bein nach. Auch Wenzel, der Starke, ist so schwach, dass man ihn voranstoßen muss. Wenigstens Wasser könnte man ihnen geben, hat denn keiner Mitleid mit ihnen? Die Bremin, die trotz ihrer kleinen Füße so groß ist, dass sie über die Köpfe hinwegsieht, sagt zu Dieterle, Hannikel halte in der Hand ein Kruzifix, das er immer wieder küsse, ob er das gesehen habe? Es wimmelt jetzt von Leuten, die gar nicht zum Exekutionszug gehören, bloß mit hinauf zum Richtplatz wollen sie, die Verurteilten von nahem begaffen, sie verhöhnen oder zum Beten auffordern. Den Soldaten, es sind alles in allem weit über hundert, gelingt es nicht, sie zu vertreiben, und so zerfällt die strenge Ordnung, die Schäffer gewahrt haben wollte, ein Gedränge und Geschiebe von Menschen und Wagen wird daraus, das sich in die Länge zieht und wieder zusammenballt, man lacht, man schreit, Pferde wiehern, und Urschel stellt ihr Kind plötzlich auf den Boden, reißt sich mit lautem Klagen büschelweise Haare aus und wirft sie in die Luft. »Lass das sein!«, herrscht die Bremin sie an. »Du tust dir bloß selber weh.« Aber Urschel hört nicht auf, obwohl drei Frauen gleichzeitig sie beruhigen wollen. Man sieht, dass ihr Blut über die Stirn läuft, die Leute weichen vor ihr zurück. »Hexe!«, schreien einige. »Hexe!« Urschels Kind stößt schrille Schreie aus, versucht sich an ihr hochzuziehen und wird endlich von der Bremin auf den Arm genommen, während der zitternde Hannes sein Gesicht wieder an Theres’ Rock drückt. Da feuert ein Soldat einen Schuss in die Luft, und es bleibt eine Zeitlang still, nur das Knarren der Wagenräder, das Schnaufen und Keuchen ringsum, das Beten weiter hinten kann Dieterle noch hören und in sich drin ein Pochen, das noch nie so heftig und so schnell war.
    Die Sonne sticht, man ist dankbar für die größer werdenden Wolken, hinter denen sie sich zeitweise versteckt. Endlich kommen sie oben beim Hochgericht an. Eine solche Menge von Menschen hat Dieterle noch nie gesehen. Dicht gedrängt stehen sie auf der Wiese, bis
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