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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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es sein, dass es in einem neuen Gebäude schon überall stank? Nach Reinheit sehnte man sich da, nach fleckenlosem Weiß. Unversehens erinnerte sich Grau an den Falter, den er, drei Jahre war es her, auf einer verschneiten Alp in der Schweiz entdeckt hatte, eine bisher unbekannte Art mit samtig braunen Flügeln und grünlichem Glanz, mit kleinen weißen Augenflecken. Sie hatten damals Hannikel gesucht, der aus dem Kerker in Chur ausgebrochen war, und Grau hatte noch am selben Abend, als der Räuber schon wieder in Ketten lag, an Professor Fabricius in Kiel geschrieben und über seinen Fund berichtet. Schneemohrenfalter, dachte Grau, ich habe ihn Schneemohrenfalter genannt.
    In der Waisenhausabteilung wurden sie vom Lehrer Israel Hartmann erwartet, der den Besucher in ein leeres Klassenzimmer bat und ihm vor der überkritzelten Schiefertafel einen Stuhl zuwies. Hartmann wirkte auf den ersten Blick phlegmatisch; er trug einen grau-weiß gesprenkelten Bart, und sein Vorname war, wie Grau vom Stockmeister erfahren hatte, durchaus biblisch und deutete keineswegs auf eine jüdische Herkunft hin. Ein Fall wie der von Dieterle, begann Hartmann gleich mit seinem Bericht, sei ihm in seinen dreißig Jahren als Lehrer noch nie untergekommen. Kaum vierzehnjährig sei der Junge und benehme sich bockiger als einst sein Vater.
    Hartmann sprach mit überraschend hoher Stimme und dehnte die Wörter am Ende der Sätze auf musikalische Weise. Dazu stand dauernd ein um Nachsicht bittendes Lächeln auf seinem Gesicht. Man habe Dieterle, als er vor zwei Jahren eingeliefert worden sei, für formbar gehalten, für ein besserungswilliges Kind, kindlich wirke er auch jetzt noch. Man habe ihn zum wahren Glauben führen wollen, zu Arbeitsfleiß, zu Demut und Gehorsam gegenüber seinen Wohltätern. Aber Dieterle sei nach geringen Fortschritten immer wieder zurückgefallen in sein widersetzliches zigeunerisches Verhalten. Er habe mehrfach gedroht, den Konstanzer Hans, der die ganze Sippe verraten habe, aufzuspüren und umzubringen, er habe geschworen, sich am Oberamtmann Schäffer zu rächen, und er habe sich dabei in schlimmste Wutanfälle hineingesteigert. Es habe nichts genützt, den Aufsässigen zu fesseln und in Arrest zu setzen. Sogar die Prügelstrafe, die man doch höchst ungern anwende, habe Dieterle nicht zu bessern vermocht, er habe hinterher bloß tagelang verstockt geschwiegen und sich geweigert, die Hände zum Gebet zu falten.
    Es war nun etwas Rührseliges in Hartmanns Ton, zugleich ein beinahe stechender Glanz in seinem Blick, und das gemahnte den Schreiber Grau an seinen Vorgesetzten Schäffer, der ihn oft ebenfalls mit Blicken zu durchbohren schien. Einmal schon, fuhr Hartmann fort, habe man Dieterle vom Waisenhaus ins Zuchthaus strafversetzt, obwohl er eigentlich zu jung dafür sei. Da habe er sich, unter Männern, die ihm körperlich weit überlegen seien, eine Weile kleinlaut, ja sogar fügsam gezeigt, und man habe ihn aus Mitleid wieder unter das weniger strenge Regime des Waisenhauses gestellt. Aber leider sei Dieterle rasch ins alte Fahrwasser zurückgekehrt, er sei beim Wollekämmen nachlässig gewesen, er habe, trotz seiner unbestreitbaren Intelligenz, so getan, als verstehe er den Katechismus nicht, er habe andere Zöglinge gegen die Kost und gegen die Pflichtgebete, die man kniend verrichte, aufgehetzt. Und letzte Woche - nun redete sich der Waisenhauslehrer in Rage - habe Dieterle auszubrechen versucht, er sei aus einem Fenster des ersten Stocks in den Hof gesprungen und mit einem verstauchten Fuß durchs Haupttor gehumpelt, erstaunlicherweise ungesehen, aber die Wachen hätten ihn draußen rasch gefasst und zurückgebracht. Deshalb sei Dieterle nun erneut für sieben Tage in Einzelarrest, bevor er dann, auf Beschluss des Vorstehers und zu seinem, Hartmanns, großen Bedauern, endgültig zum Zuchthäusler werde. Einen Besuch lasse man nur zu, wenn er der Ermahnung des Delinquenten diene, wovon man beim Abgesandten des hochgeschätzten Oberamtmanns von Sulz selbstverständlich ausgehe.
    Grau äußerte seine Dankbarkeit. Man machte sich auf den Weg, wiederum durch unübersichtliche Gänge. Dies alles wurde in seinem Kopf zum Labyrinth, obwohl die Gebäude, von außen gesehen, doch klar und symmetrisch angelegt schienen. Einmal kreuzten sie eine Schar Kinder, die, überwacht von einem jungen Gehilfen, in Zweierkolonne gingen. Murmelnd grüßten sie; Hartmann antwortete darauf mit einem Segenswunsch.
    Die Arrestzelle lag am
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