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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben
Autoren: Lukas Hartmann
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äußersten Ende des Gebäudes. Es roch darin wie in einem Stall. Der Raum war zu hoch und zu schmal, erhellt nur von einem Fensterchen oben in der Mauer, durch das sich auch das magerste Kind nicht zwängen konnte. Graus Augen brauchten einige Zeit, bis sie sich ans Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann sah er die zusammengekauerte Gestalt in der Ecke. Dieterle, auch er in Anstaltskleidung, hatte die Knie an seine Brust gezogen und die Unterschenkel umfasst; immerhin war er nicht gefesselt. Der Kopf lag seitlich auf den Knien, die Wange schien zerkratzt. Er glich jetzt seinem Vater viel stärker, als Grau es in Erinnerung hatte.
    Dieterle bewegte sich nicht, er wirkte so starr, als atme er gar nicht mehr. Grau gab sich einen Ruck und fragte den Arrestanten, ob er die Zeit dazu nutze, in sich zu gehen und sich in christlichem Sinn zu bessern, das würde er gerne dem Herrn Oberamtmann Schäffer ausrichten. Bei diesem Namen zuckte es um Dieterles Nase und Mund, dann saß er wieder wie eine Statue da.
    »Sehen Sie«, sagte Hartmann zum Schreiber, »er ist unansprechbar. Der Trotz sitzt in ihm wie ein kleiner Dämon.«
    Der Stockmeister indessen rüttelte Dieterle an der Schulter, als wolle er ihn aus dem Schlaf reißen: »He da, Bursche, gib Antwort, wenn man dich was fragt!«
    Jetzt hob Dieterle den Kopf von den Knien und schaute, immer noch schweigend, mit leerem Ausdruck an den Besuchern vorbei.
    »Niemand will, dass du endest wie dein Vater«, sagte Grau und versuchte, den Wörtern Gewicht zu geben. »Das musst du doch wissen. Auch deine Mutter wünscht sich von ganzem Herzen, dass du denen gehorchst, die dir Gutes tun. Sie weint um dich, deine Mutter, sie umarmt dich in Gedanken jeden Tag hundertmal.«
    »Und sie betet für dich«, fügte Hartmann hinzu.
    Bei der Erwähnung seiner Mutter hatte Dieterle sich wieder stärker zusammengeduckt, er versteckte nun sein Gesicht zwischen den Knien.
    »Willst du mit uns nicht auch beten für dein Seelenheil?«, fragte Hartmann in gütigem Ton.
    Da richtete Dieterle sich ruckartig auf und stieß mit dem Hinterkopf unabsichtlich gegen die Mauer. Das dumpfe Geräusch erschreckte die Besucher. Dieterle rieb sich die schmerzende Stelle. »In Paris möchte ich jetzt sein«, sagte er plötzlich. In seine Kinderstimme schlich sich alle paar Wörter ein heiserer Unterton ein, der den Stimmbruch ankündigte. Das gab dem Klang etwas Unvorhersehbares, ja Böses.
    »In Paris«, wiederholte Grau verblüfft. »Warum in Paris?«
    »In Paris«, sagte Dieterle und maß herausfordernd den Schreiber, »da hat sich das Volk gegen seine Unterdrücker erhoben. Und das wird hier auch geschehen, schon bald.«
    Ein paar Sekunden war es in der Zelle völlig still; nur der Gesang einer Amsel drang von draußen herein.
    Grau fasste sich als Erster. »Du meinst den Sturm auf die Bastille. Woher weißt du das?«
    »Man erzählt es sich überall«, erwiderte Dieterle. »Eine solche Nachricht geht durch alle Mauern.«
    »Dummes Zeug«, fuhr der Stockmeister ihn an. »Das wird in Paris schneller vorbei sein als ein Sommergewitter.«
    »Das Volk«, sagte Hartmann, »wird bald einsehen, dass es Sünde ist, sich gegen die gottgewollte Ordnung aufzulehnen.«
    »Und du«, der Stockmeister näherte sich wieder bedrohlich dem Jungen, »sollst dich um ganz anderes kümmern als um den Pöbel in Paris.«
    Doch den beiden, der Schreiber merkte es wohl, war eine kleine Unsicherheit anzuhören. Man wusste ja so wenig darüber, was in Frankreich wirklich geschah. Das Letzte, was man ungläubig in den Gazetten gelesen hatte, war, dass Bauern vielerorts Schlösser in Brand gesteckt und Vorratsspeicher geplündert hätten. Noch weniger glaubhaft schien die Nachricht, dass die Nationalversammlung, die seit Wochen tagte, die Vorrechte von Adel und Klerus abschaffen wollte.
    Hartmann schüttelte - allzu theatralisch, fand Grau - den Kopf. »Es ist traurig und beschämend, mein Junge, dass du dich an den Greueln delektierst, die braven Menschen das Leben kosten.«
    »Mein Vater hätte sich darüber gefreut«, sagte Dieterle laut, beinahe schrill, und presste danach die Lippen aufeinander.
    Der Stockmeister verlor nun doch die Fassung. »Dein Vater«, damit riss er Dieterle am Kragen in die Höhe, nahe zu sich heran, »war ein gemeiner Mörder und Erzdieb, und du schlägst ihm nach, Gott sei’s geklagt!« Er stieß den Jungen zurück auf den kleinen Haufen Stroh, auf dem er gesessen hatte. Dieterle sank in sich zusammen; man sah ihm
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