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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights
Autoren: Tom Liehr
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später), sendeten familien-und seniorentauglichen Sondermüll. Sendungen mit »jugend licherer « Musik waren die Ausnahme, ganze zwei gab es davon pro Woche zu grundschülerfreundlichen Zeiten, genaugenommen anderthalb:
     »Hey, Music« und »Schlager der Woche«. An Programmplätzen untergebracht, wo sich das Aufsehen in Grenzen hielt, fesselten
     diese beiden Shows Tausende Schüler an die Radioempfänger, vor denen sie hockten und mit Mono-Cassettenrecordern per Mikrofon
     auf teure AGFA-C60-Cassetten so aufzunehmen versuchten, daß keine Sprache »mitkam«. Durchsetzt zwar mit Cindy, Bert und Konsorten,
     aber eben auch angereichert mit »The Sweet«, »Slade«, »Manfred Mann’s Earth Band« und dergleichen, fand sich hier die einzige
     Möglichkeit, eine eigene Kultur innerhalb der vorgegebenen Medienwelt zu formulieren, jedenfalls in Berlin. Es dauerte ganz
     schön lange, bis die Sender begannen, sich zeitweise und schließlich ganz und gar dem jungen Publikum zu öffnen, und in den
     Neunzigern ist dieser Prozeß dann hoffnungslos umgekippt.
     
    |29| Mir war die Musik fast völlig egal. Ich lauschte den
Stimmen
. Radiomoderatoren waren zu dieser Zeit reine Ansager. Telefonspielchen oder kurze Reportagen – bis auf das vielgehörte Bundesligachaos
     am Samstagnachmittag, von Live-Berichterstattung im Fernsehen träumte man noch nicht einmal – waren damals kaum denkbar, Sendungen
     wie »Schlager der Woche« wurden sogar vorproduziert, und das, obwohl der Moderator kaum mehr zu sagen hatte als den Titel,
     den Namen des Interpreten und die Plazierung. Trotzdem waren diese Leute Stars. Bei den anderen waren sie beliebt, weil sie
unsere
Musik spielten. Ich fand sie toll, weil sie gute Stimmen hatten und scheinbar locker völlig fehlerlos sprechen konnten; ich
     wußte ja noch nichts von Bandkonserven und Schnitten. Lord Knud, der Moderator von »Schlager der Woche«, und Jürgen Jürgens,
     der »Hey, Music« machte – die fortschrittlichere der beiden Sendungen -, das waren die Leute, über die wir am nächsten Tag
     in der Schule sprachen, die wir zitierten mit ihren Lieblingssprüchen, langweiligen, zotigen Wiederholungen irgendwelcher
     Nichtigkeiten.
     
    Und jetzt hatte ich ein eigenes Radio. Ein kleines, gelbes, kofferförmiges (tatsächlich in genau der Form, die
Samsonite
später kultivierte) Radio, betrieben von zwei Mignonzellen, mit eingebautem Lautsprecher an der Seite und Kopfhöreranschluß,
     der den Lautsprecher automatisch abschaltete, wenn man einen Ohrstöpsel anschloß, einen kleinen, beigefarbenen Knopf am Klingeldraht,
     der im Ohr nach einer Weile weh tat und ganz schrecklich klang. Fünfzehnneunzig oder neunzehnneunzig bei »Tchibo« oder »Eduscho«,
     irgendeinem dieser Kaffeeläden. Ich hatte ein eigenes Radio. Meinen Stoffkoala »Grißly« unter dem linken Arm (mit neun darf
     man sowas noch), das kleine gelbe Radio in der rechten Hand, wackelte ich die Treppe zum
Souterrain
, in den Keller hinunter, in das frischrenovierte Zimmer, das noch immer nach feuchtem Muff roch, vorbei an der türlosen Werkstatt
     meines Vaters, aus der der Geruch von Korn und altem, |30| öligem Metallstaub kam, in die luftige (nichtsdestotrotz muffige) Höhe des Doppelstockbettes, das mir jetzt alleine gehörte
     und durch dessen Ritzen es nichts Erstaunliches mehr zu beobachten gab, kein verzerrtes Schwestergesicht zu rhythmisch ruckelnder
     Bettdecke etwa.
    Es war ein Sommerabend, ich weiß es noch ganz genau; mein Souterrainfenster ging nach Südwesten, die Gitterstäbe vor dem Fenster
     warfen brutale Schatten an die gegenüberliegende Wand, an der sich das scheußliche Bananenmuster vom Fußboden fortsetzte,
     glücklicherweise hatte es nur noch für diese Wand gereicht. Veronika, meine Schwester, saß oben vor dem Fernseher. Meine Eltern
     waren an diesem Abend zu Freunden eingeladen, zu einer Geburtstagsfeier. Gegen eins, zwei würden sie, alle beide stockbesoffen,
     wieder nach Hause kommen, natürlich mit dem Auto, und sich dann streiten, lautstark, alle Rücksicht vergessend, scheißegal,
     was die Nachbarn denken. Wenn sie beide
richtig
hacke waren, versuchte mein Vater häufig, meine Mutter zu schlagen. Da sie locker das Dreifache von dem wog, was er auf die
     Waage brachte, war das keine leicht zu bewältigende Aufgabe, aber er schaffte es manchmal, weil meine Mutter ja auch strandhaubitzenmäßig
     dabei war. Ansonsten hielt sie ihn einfach am ausgestreckten Arm, und er ruderte und
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