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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights
Autoren: Tom Liehr
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trat, ohne etwas zu erreichen, bis es
     meiner Mutter zu viel wurde und sie das Männchen einfach nahm und aufs Sofa schmiß, im günstigsten Fall, oder, häufiger, an
     die Wand, und einmal sogar aus dem Wohnzimmerfenster, woraufhin er eine Woche im Krankenhaus bleiben mußte, mit zwei Brüchen
     und heftigen Schnittverletzungen. Meine Eltern soffen sich fast jeden Abend zu, mein Vater, weil er mußte, meine Mutter aus
     Geselligkeit, vielleicht auch aus Langerweile, möglicherweise, weil sie sich selbst nicht besonders mochte; die Gründe waren
     mir schnurz. Wenn sie zu Hause soffen, kam es früher zum Streit, wenn sie auswärts soffen, später, niemals aber außerhalb
     unseres Hauses, so weit reichte die Contenance noch.
Immer
jedoch waren wir Zeugen, meistens hörten wir es nur, häufig aber mußten wir es mit |31| ansehen: In der Wohnzimmertür stehend, ich mit Grißly unter dem Arm, im ausgewaschenen und zu knappen Frotteeschlafanzug (den
     sah ja nie ein Nachbar), Veronika im Nachthemd, manchmal noch mit vom Fahrradfahren verschmutzten weißen Tennissocken an den
     Füßen. Wir weinten beide, anfangs, waren erschüttert, verängstigt, eingeschüchtert, später dann nicht mehr. Es war nicht nur
     die pausenlose Wiederholung, die es bedeutungslos machte, oder die Tatsache, daß am nächsten Tag wieder alles im Lot zu sein
     schien, jedenfalls tagsüber, nein: Es gab keine Gefühle im Hause Kunze außer den ambivalenten zwischen Veronika und mir. Wir
     bedauerten uns gegenseitig. Aber unsere Eltern nie. Denn die waren ja erwachsen, und was immer sie auch taten, in mir reifte
     die Überzeugung, daß sie schon wissen würden,
warum
.
     
    Jedenfalls sollte ich an diesem Abend mit Veronika alleine bleiben. Radio hören bis höchstens um neun, dann Licht aus, Klappe
     zu, Affe tot. Veronika dürfte mir das Radio wegnehmen, eine himmelschreiende Gemeinheit. Sie würde es so und so tun. Hätte
     es getan. Wenn sie nicht kurz nach meinen Eltern abgedampft wäre. Als ich um neun den kleinen gelben Empfänger abschaltete,
     mir das beigefarbene Stöpselchen aus dem pochenden Ohr zottelte und nach oben lauschte, war es still. Ich kannte das, früher
     hatte es mir nie etwas ausgemacht: Veronika verschwand, kurz nachdem meine Eltern gegangen waren, wann sie wiederkam, merkte
     ich nicht, und ich wußte auch nicht, wohin sie ging, fragte sie nie; sie hätte es mir sowieso nicht gesagt. Meine Eltern hätten
     ihr das Hirn aus dem Schädel gedroschen, hätten sie davon gewußt, aber nicht, weil sie in Sorge um mich waren oder vielleicht
     um meine Schwester, sondern weil sie keine Rumtreiberin zur Tochter wollten,
wenn sich das herumgesprochen hätte
… Daß die Nachbarn das versoffene Gebrüll auch noch drei Häuser weiter hörten, daß manchmal Leute vor dem Gartenzaun standen
     und kopfschüttelnd zuhörten, das schien niemanden zu interessieren. |32| Ich lag auf meinem Bett, das kleine gelbe Radio auf der Bettdecke, und starrte die schlechtverklebten Styropordeckenplatten
     an, kaum einen Meter über meinem Gesicht. Das Haus war still, von draußen war nichts zu hören. Wir wohnten an einer Straße,
     die zu diesem Zeitpunkt noch ein schlaglochübersäter Feldweg war, fünfzig Meter weiter begannen die Getreidefelder, tatsächlich,
     im Süden von Berlin-Neukölln, Anfang der Siebziger. Es war fast einsam.
    Dann hörte ich das Rascheln. Direkt neben mir. Die Wand raschelte. Zischelte. Knisterte. Knatterte. Es hörte sich an, als
     würde sich eine riesengroße Ratte ganz, ganz langsam zu mir hindurchnagen. Mir stellten sich die Haare auf, ich bekam einen
     heftigen Schweißausbruch, war sofort klatschnaß, drückte Grißly und das Radio an mich und rutschte lautlos von der Wand weg,
     soweit es ging. Das Rascheln hörte nicht auf. Es wurde mal lauter, mal leiser, kam mal eher von oben, dann aus der Mitte,
     von unten, von überall. Es war das allerallerschrecklichste Geräusch, das ich jemals gehört hatte.
    Und ich war allein. Das Haus war verlassen, meine Eltern waren saufen, meine Schwester machte irgendwo irgendwas. Es war niemand
     da. Ich konnte den Fußboden neben meinem Etagenbett nicht sehen – nicht mehr, dafür war es inzwischen zu dunkel; die Straßenlaterne
     warf nur zwei magere Gitterschatten an die Wand. Ich konnte kein Licht einschalten, denn meine Lampe war
an der Wand
befestigt, aus der das Rascheln kam, und dahin konnte ich nicht greifen, um keinen Preis. Ich konnte nicht aus dem Bett, weil
     ich
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