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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights
Autoren: Tom Liehr
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nicht wußte, was auf dem Fußboden war, vielleicht krabbelte es dort auch schon. Woher das fürchterliche Rascheln kam,
     wer oder was es verursachte. Bewegungslos lag ich auf meinem Bett und wartete darauf, daß mich jede Sekunde irgendwas anfallen
     und auffressen würde. Nie wieder hatte ich solche nackte Angst um mein Leben.
    Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging. Irgendwann wagte ich es, ganz langsam die Bettdecke über meinen Kopf zu ziehen. Unter
     der Decke war es zwar völlig dunkel, aber auch völlig |33| still: Ich mußte das Geräusch nicht hören. Natürlich würde mich die Riesenratte trotzdem fressen,
vielleicht
. Aber die Angst wurde ein bißchen weniger.
    Und dann schaltete ich das Radio ein, steckte mir extrem vorsichtig das Stöpselchen ins Ohr. Bis dahin hatte ich noch niemals
     nachts Radio gehört (die Sender hatten sogar noch
Sendepausen
, bis weit in die Achtziger). Es lief eine Sportsendung, die sich aus zwischenmoderierten Berichten zu mehreren Ereignissen
     zusammensetzte, keine Ahnung mehr, welche das waren; Sport interessierte mich damals und auch später nicht. Aber der Moderator
     war faszinierend, hatte eine kolossale, ganz einnehmende, warme, gleichzeitig rasante Stimme, die mich fesselte und mit der
     Zeit völlig vergessen ließ, daß eine monströse rotäugige Ratte dabei war, sich durch die Kellerwand unseres Hauses zu fressen.
     Ich lauschte, lauschte.
    Irgendwann riß meine Schwester die Decke von mir herunter, es war hell, ich schrie vor Schreck, immer noch verängstigt, sah
     die Ratte plötzlich wieder vor mir, bis ich Veronika erkannte, der ich um den Hals fiel, und ließ mich von ihr aus dem Bett
     ziehen, mit beiden Armen an ihrem Hals hängend. Ich weinte wie verrückt, meine Riesenangst packte mich wieder, ich wagte,
     nicht zur Wand zu zeigen.
    »Donny, Kleiner, was ist denn?« fragte sie. Donny ist so ein superbescheuerter Kosename, aber von
Donald
gibt’s eben kaum brauchbare Verniedlichungen.
Jeder
nannte mich Donny, auch in der Schule (ich hatte eine schwere Zeit, als die
Osmonds
mit Front-Jungschwein Donny Osmond große Erfolge feierten).
    Ich brachte kein Wort heraus, verdrehte aber meinen Arm und zeigte auf die Wand hinter mir.
    »Was ist denn da?«
    Ich schüttelte den Kopf. Meine Schwester stierte zur Wand und sagte nichts, für einen Moment lang war es völlig ruhig, und
     ich befürchtete schon, die Ratte hätte |34| sich verzogen, um mich am nächsten Abend wieder heimzusuchen. Aber das Geräusch war zu hören, ein leises, aber flächiges Rascheln,
     Kripseln, direkt von der Wand neben meinem Bett.
    »Verflucht, was ist denn
das
?« schrie Veronika vor Schreck, packte mich und rannte mit mir hoch in ihr Zimmer, das uns bis zu diesem Tag gemeinsam gehört
     hatte. Ich schlief fast sofort tief und fest in ihren Armen ein, Grißly und das kleine gelbe Radio, das mich beschützt hatte,
     an mich gedrückt.
     
    Daß mein Vater, als er am nächsten Tag die ohnehin lockeren Tapeten von den feuchten Wänden riß, nur ein paar kleine schwarze
     Käfer dahinter fand, die aus einem fingerdicken Loch gekrabbelt kamen, änderte nichts mehr an meinem Entschluß, ein
Radiomann
zu werden.
     
    Einer, der Leute nachts beschützt vor den dicken Ratten dieser Welt, die sich durch Wände fressen.

|35| 4. Morning Has Broken
1972– 1981
    Meine Stimme blieb, auch nach dem Stimmbruch, der mich irgendwann zwischen vierzehn und fünfzehn erreichte, eine klangvolle,
     wohlbetonte, superschnelle Stimme. Wäre ich in Bayern oder so groß geworden, was zum Glück nicht der Fall war, hätten sie
     mich wahrscheinlich alleine wegen der Stimme in ein Priesterseminar geschickt. Donald Kunze,
the voice
, dem Gott so wenig bedeutete wie einem südafrikanischen Buschmann der aktuelle Hit von
Fleetwood Mac
, auf einer Kanzel: eine lustige Vorstellung. Allein der Kelch ging an mir vorbei. Meine Eltern waren alles andere als religiös,
     glaubten ausschließlich an die Macht des Scheins und den heiligen Weingeist, und Berlin sowieso ein weitgehend agnostisches
     Refugium.
     
    Nach zweieinhalb Jahren fiel mir das Gymnasium zusehends schwerer, was weniger am Stoff lag, den ich mehr oder minder nebenbei
     bewältigte, jedenfalls den unvermeidlichen Anteil. Meine Mitschüler interessierten mich kaum mehr als vorher die an der Grundschule,
     das opportunistische, egoistische Pack. Ich beobachtete die Cliquenbildung, die filigranen, enorm einengenden Strukturen,
     die sich zunächst die Mädels,
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