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Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Titel: Radio Miracoli und andere italienische Wunder
Autoren: Fabio Bartolomei
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zu, setzt sich wieder und fügt hinzu: »Arrogantes Arschloch.«
    Ich nehme einen Katalog und fange zu lesen an, während das Paar sich meinem Schreibtisch nähert.
    »Bitte, setzen Sie sich doch«, sage ich und lege in Seelenruhe die Broschüre beiseite.
    Er strahlt über das ganze Gesicht, während sie wie eine M amma wirkt, die dem Kleinen seinen größten Wunsch erfüllt hat, jedoch nicht, ohne ihm zuvor das Versprechen abzunehmen, dass er sich artig benehmen wird.
    Selbstverständlich werden sie mich nun mit Fragen löchern. Ich könnte jetzt antworten, was mir in den Sinn kommt, und mich in Ruhe auf meine eigenen Angelegenheiten konzentrieren: Ich darf auf keinen Fall vergessen, die Remouladensoße zu kaufen; außerdem fängt der Film um halb zehn Uhr an, und vorher sollte ich noch zur Reinigung. Und morgen muss ich meinen Vater besuchen.
    Vor der Schiebetür zum Krankenhaus mache ich mich kurz zurecht. Ein Sommergewitter hat die Luft erfrischt, und jetzt weht ein kühler Wind, der mein schweißnasses Hemd an den Körper presst. Eigentlich sollte ich im Juli nicht in der Stadt sein, sondern Urlaub machen. Das sage ich mir jedes Jahr, bevorzugt dann, wenn es schon zu spät und der Juli fast vorbei ist.
    Du wirst einmal wie dein Vater werden, haben mir alle prophezeit. Mag schon sein. Von mittlerer Größe und mittlerer Statur, mit dem Bauchansatz eines durchschnittlichen Vierzigjährigen und den braunen Augen und Haaren sehe ich ihm meiner Ansicht nach jedoch kein bisschen ähnlich. Ich bin der klassische Typ, der einer Reihe nichtssagender amerikanischer Schauspieler, vor allem aus dem Fernsehen, ähnelt. Du siehst ein bisschen aus wie dieser, ein bisschen wie jener, bekomme ich regelmäßig zu hören. Nur leider helfen mir diese vagen Ähnlichkeiten nicht im Geringsten, bei anderen Eindruck zu hinterlassen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich kaum den Mund aufbekomme, um ja nicht aufzufallen, und mich hinter einem Viertagebart verstecke. Aber eigentlich ist es mir egal. Ich komme gut allein zurecht. Hin und wieder fantasiere ich mir eine paar Freunde zusammen, die meine Statur haben, und eine Freundin, die mich zu überraschen vermag. Aber ich bin nicht der Typ, der sich von der Mattscheibe losreißt, um irgendwelchen Fantasievorstellungen nachzujagen.
    So. Da wäre ich nun, bereit, meine Sohnespflicht einem Mann gegenüber zu erfüllen, der sich nie die Mühe gemacht hat, seinen Pflichten als Vater nachzukommen. Der Mann, dem ich ähneln soll, ist ein kolossaler Schwätzer, einer, der allen nach dem Mund redet, und ein Stümper biblischen Ausmaßes. Für mich ist er ein Mysterium. Nie hat er auch nur minimales Pflichtbewusstsein oder Opferbereitschaft an den Tag gelegt. Kaum war ich volljährig, gewöhnte er es sich an, erst für Tage, dann für Wochen und schließlich für Monate zu verschwinden. Er unterlief jede meiner pubertären Unabhängigkeitsbestrebungen mit eigenen Aktionen, fast so, als wäre er achtzehn Jahre alt geworden und könnte es kaum erwarten, sich von mir zu befreien. Meine Mutter starb, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war zu jung, um die ganze Tragweite zu begreifen, aber alt genug, um zu verstehen, dass nach einem aufwühlenden Gespräch im Auto während der Rückkehr vom Friedhof ein Vater seinem Sohn nicht einen Satz zumuten sollte wie: »Es wird schwer sein, sie zu ersetzen«. Noch dazu beiläufig hingeworfen zwischen einem saftigen Fluch über den Fahrer im Wagen vor uns, der an der Ampel eingeschlafen war, und einem ungebührlich langen Blick auf eine Passantin im Minirock.
    Krankenhäuser verunsichern, kaum dass man einen Fuß über ihre Schwelle setzt. Ich suche die Abteilung C, sehe aber nirgendwo ein Hinweisschild. Es gibt eine Abteilung A, eine Abteilung B und eine Reihe von Türen, die nicht näher gekennzeichnet sind. Vor einer Pinnwand bleibe ich stehen. Sie ist voller Mitteilungen, die mit Filzstift geschrieben sind oder von einem mindestens zwanzig Jahre alten Tintenstrahldrucker stammen. Versteckt zwischen Angeboten für Ausflüge des Freizeitverbands für italienische Arbeiter (»Auf, auf, Genossen!«) und einer Unzahl an Aushängen (mir sticht vor allem ein kryptisches »Bitte Türen nicht mit Gewalt öffnen« ins Auge), entdecke ich einen Zettel mit der Aufschrift »Abteilung C«. Ich folge dem Pfeil, der in Richtung »Männerstation« weist. Vor der fraglichen Tür stehend, sehe ich mich einem Schild mit dem Hinweis »Frauenstation« gegenüber. Während ich
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