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Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Titel: Radio Miracoli und andere italienische Wunder
Autoren: Fabio Bartolomei
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angesichts der Tatsache, dass er in einem Bett liegt, angeschlossen an eine Infusion und umgeben von weiteren Kranken mit Nadeln im Arm.
    »Was gibt es Neues?«, will er wissen.
    Nach so langer Zeit fühlt es sich seltsam an, miteinander zu reden, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Ich habe mir alle möglichen Reaktionen ausgemalt, nur das nicht. Im Geist habe ich mir Hunderte nutzloser Antworten und eine gönnerhafte Haltung zurechtgelegt, die mir jetzt nicht das Geringste nützt, da mein Vater keinerlei Aggression zeigt. Er ist nicht einmal bedrückt. Er ist nicht zerknirscht, nicht traurig, er ist nichts. Verloren lebt er in seiner eigenen Welt, und zu dieser Welt gehöre eben auch ich. Vielleicht so, wie ich vor vielen Jahren war.
    »Also? Willst du mir nichts erzählen?«, fordert er mich erneut auf, nachdem er lange den Blick auf der Suche nach einem Kellner durch das Zimmer hat schweifen lassen.
    Mein Leben ist ziemlich öde, also mache ich das, was ich am besten kann: Ich lüge. Ich erfinde einen verantwortungsvollen Job, der mich vollkommen mit Beschlag belegt, und tue so, als hätte ich beschlossen, weniger ehrgeizig zu sein und mir mehr Zeit für mich zu nehmen. Ich erzähle von Vorgesetzten, die mit Neid und Sorge meinen unaufhaltsamen Aufstieg beobachten, schildere detailliert eine Reise nach Mexiko, die ich nicht unternommen habe, und würze das Ganze mit Plänen für meine bevorstehende Hochzeit.
    Ich hatte mit einem Krankenbesuch von einer Stunde gerechnet, das Minimum, um anschließend ohne Schuldgefühle nach Hause gehen zu können. Stattdessen sind schon fast drei Stunden vergangen, und ich schaffe es noch immer nicht, mich loszueisen. Denn mein Vater hat ohne jede Vorwarnung plötzlich angefangen, über Frauen zu reden, besser gesagt, über Mösen. Das ist umso erschütternder, wenn man bedenkt, dass ich ihn in vierzig Jahren nicht ein Mal vulgäre Ausdrücke habe gebrauchen hören, es sei denn, wenn sie absolut nötig waren, um einen Witz zu erzählen. Und Sex war nie ein Thema für ihn.
    »In diesem Krankenhaus gibt es Frauen, die laufen splitterfasernackt herum. Das muss man dem Arzt sagen. Und dann kommen sie auch noch her und fassen dich an. Ich habe sie schon zurechtgewiesen. ›Was wollt ihr von mir?‹, habe ich gesagt. ›Lasst mich in Ruhe.‹ Aber das ist ihnen egal!«
    Im Zimmer liegen noch vier weitere Patienten. Zwei von ihnen bekommen noch alles mit, und so versuche ich, Haltung zu bewahren. Mit leiser Stimme rede ich auf meinen Vater ein in der Hoffnung, ihn mit meinem eindringlichen Flüstern beruhigen zu können.
    »Und dann deine Mutter, die einen auf Heilige macht. Stell dir vor, eines Abends habe ich sie dabei erwischt, wie sie sich einen Porno angeschaut hat! Zuerst habe ich mich über sie lustig gemacht, dann habe ich auch zugeschaut. Unglaublich, wie gut der Film war, mit welcher Eleganz das Thema behandelt wurde. Ein raffiniertes Spiel aus Hell-dunkel-Kontrasten.«
    Aus dem Bett hinter mir dringt eine Art Schluchzen oder, was wahrscheinlicher ist, ein unterdrücktes Lachen an mein Ohr. Ich hatte mich innerlich schon darauf vorbereitet, eventuell peinlich berührt zu sein, hatte dabei aber eher an Gefühle tragischer Betroffenheit gedacht, ausgelöst durch Fragen wie: »Ich muss sterben, ja?«
    Stattdessen sagt mein Vater zu mir: »Eine ganz schöne Sau, deine Mutter, wie?«
    »Äh, sie war schon immer sehr neugierig«, erwidere ich in der Hoffnung, die Verstorbene damit in einem besseren Licht erscheinen zu lassen.
    Lebhaft und noch immer mit dröhnender Stimme, rät mir mein Vater, mir unbedingt Kanal 61 anzuschauen. Das ist der Sender mit den gut gemachten Pornos. Sekunden später fängt er an zu gähnen, murmelt ein paar Worte und schläft ein. Während einer der Patienten, der sein Lachen nicht mehr unterdrücken kann, auf den Gang hinausflüchtet, schlage ich die Decke meines Vaters am Fußende akkurat ein und strecke seinen Arm mit der Infusionsnadel aus. Ich finde es nicht übel, einen Vater zu haben, der in der Lage ist, auch die künstlerischen Qualitäten eines Pornos zu bemerken.

1
    Ich spiele Alice etwas vor. Seit über einem Jahr sind wir inzwischen zusammen, und nach einem knappen Monat des Zusammenlebens gingen wir bereits so routiniert miteinander um wie ein Angestellter des Ministeriums mit dem Kaffeeautomaten. Ganz gleich, ob ich sie ärgern möchte oder ob ich Liebe, Zärtlichkeit, Leidenschaft von ihr will – ich muss nur auf den richtigen
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