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Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Titel: Radio Miracoli und andere italienische Wunder
Autoren: Fabio Bartolomei
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nicht die geringste Absicht habe, unser Projekt aufzugeben. Ich werde ihnen erklären, dass wir als Gruppe absolut konkurrenzlos sind, und dass in jedem von uns die Fähigkeit zu einem Neuanfang schlummert.
    Ich fühle mich stark. Ich ziehe aus allem Kraft – aus Samuel und Alex, aus Elisas Bein, das sich an das meine schmiegt, aus der Erinnerung an meinen Vater, der es sich sogar todkrank nicht nehmen ließ, mir zuzulächeln, und zum ersten Mal ziehe ich Kraft aus mir selbst und aus der Angst, wieder zu dem zu werden, der ich einmal war.
    Die Dinge werden sich ändern. Tausende von Menschen werden auf die Straße gehen. Jedes Jahr wird es am Tag des Massakers einen großen Fackelzug geben, Politiker werden sprechen, Journalisten und Schriftsteller. Und ich werde dabei sein. Ich bin jetzt Teil der Zivilgesellschaft, einer von denen, die sich wütend aus dem bequemen Sessel erheben und auf die Straße gehen, um an vorderster Front zu demonstrieren, gleich hinter dem Spruchband, das den Zug eröffnet.
    Man wird ein imposantes Denkmal errichten, ganz sicher sogar, und ich werde bei der Einweihung dabei sein. Hoffentlich wird es keine dieser kalten, modernen Scheußlichkeiten mit Stelen, Spiralen und Kugeln werden. Hier bedarf es eines klassischen Werks, das in der Lage ist, auch noch die größten Ignoranten anzusprechen und in realistischer Manier jene vom Herrn gesegneten Körper abzubilden, jene hoffnungslosen, aber würdevollen Antlitze. Ich möchte, dass eine der dargestellten Personen eine italienische Anthologie in der Hand hält. Die Muskelpartien sollen realistisch herausgearbeitet werden, um dem Betrachter zu verdeutlichen, dass es für Alex und die anderen ein Leichtes gewesen wäre, uns zu überwältigen, dass sie aber nur deswegen zu uns kamen, um unsere Tomaten zu pflücken.
    Ich werde den richtigen Tonfall finden, um meine Freunde zu überzeugen. Ich werde aufrichtig sprechen und meine Erkenntnisse mit ihnen teilen, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich für verrückt halten.
    Es ist nicht unsere Schuld, wenn wir jetzt davonlaufen, glaubt es mir. Wir sind erzogen worden in der Furcht vor Gott, unserem Schöpfer. Deshalb kann man nicht von Schuld sprechen, wenn wir uns auch vor allem anderen fürchten. Wir sind aufgewachsen in dem Glauben an unser Recht auf ein gutes Leben, und wir haben diesen Mythos genährt mit der Hingabe, mit der wir uns einer festen Anstellung, der Karriere, dem Erfolg verschrieben haben. Aus diesem Grund können wir nichts anderes, als uns stets arm und unzulänglich zu fühlen. Wir laufen davon, weil man uns keine wirkungsvollen Waffen an die Hand gegeben hat, um Widerstand zu leisten. Und wenn wir dahinterkommen, dass unsere Lieblingsmannschaft uns nicht den Gefallen tut zu gewinnen, dass unsere Freunde von der Bank sich nur dann an uns erinnern, wenn wir im Minus sind, und dass unsere Arbeit uns und unser Leben im Würgegriff hat – dann fühlen wir uns geschlagen. Dabei hätte es genügt, wenn wir uns an Gedanken und Idealen (nicht an Pixeln) orientiert und unsere eigenen Träume verfolgt hätten, die unseren ureigensten Ambitionen und nicht dem Besprechungsraum eines multinationalen Konzerns entsprungen waren. Dann wären wir jetzt ein paar vollkommen normale Menschen, die sich vor Angst zwar ins Hemd machen, trotzdem aber den Mut haben, auf der Stelle zu wenden und wieder zurückzufahren. Doch wer weiß. Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende. Dieser Tag ist gerade erst angebrochen.

Anmerkung des Übersetzers
    Das Zitat des Gedichtes von Eugenio Montale ist entnommen dem Band Satura/Diario , Aus den späten Zyklen , Übertragung von Michael Marschall von Bieberstein, R. Piper & Co. Verlag, München 1976, S. 34f.
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