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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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Warum?«
    Natürlich hatte Sumaya diese Frage kommen sehen. Nur war sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob die Antworten, die sie sich zurechtgelegt hatte, wirklich brauchbar waren. Denn während sie ihre vorbereiteten Optionen im Kopf durchging, wurde ihr auf einmal klar, dass sie nicht bedacht hatte, wie viele andere Bewerber Lutfi Latif haben würde, von denen zweifelsohne alle etwas ganz Ähnliches sagen würden, vielleicht sogar schon gesagt hatten. Sumaya merkte, dass sie nervös wurde, schließlich war es eigentlich zu spät für solche Überlegungen, sie hätte außerdem schon längst etwas sagen müssen, sie war drauf und dran zu versagen, und das auch noch wortlos . Später, auf dem Nachhauseweg, dachte sie darüber nach, ob es eine Übersprungshandlung gewesen war, dass sie ausgerechnet die allererste Frage des Abgeordneten nicht beantwortete.
    »Herr Latif«, hörte Sumaya sich nämlich plötzlich sagen, »bevor wir weitermachen, muss ich noch ergänzen, dass ich in meinen Bewerbungsunterlagen etwas unterschlagen habe. Ich wurde im November 2001 wegen Sachbeschädigung und groben Unfugs verurteilt.«
    »Interessant« , wiederholte der Abgeordnete nach einer kurzen Pause, in der er freilich nicht aufgehört hatte, zu lächeln. »Vielleicht können Sie mir das nachher noch genau erklären. Zunächst interessiert mich tatsächlich viel mehr, warum Sie gerne für mich arbeiten würden.«
    »Entschuldigung«, sagte Sumaya. »Ich bin anscheinend ein bisschen nervöser, als ich dachte. Also. Ich glaube, dass es eine sinnvolle Arbeit ist.«
    »Sinnvoll inwiefern?«
    »Nun ja, Abgeordnete sind das entscheidende Personal einer Demokratie. Sie haben ein Mandat, ihre Wähler zu vertreten. Aber um das erfüllen zu können, brauchen sie Mitarbeiter, die ihnen den Rücken freihalten und sie da, wo die Abgeordneten ihre Schwerpunkte setzen, fachlich unterstützen.«
    »Ja, das stimmt natürlich«, gab Lutfi Latif ihr recht. »Bei wie vielen Abgeordneten haben Sie sich denn beworben?«
    Sumaya hasste es, bloßgestellt zu werden. »Ich habe mich nirgendwo sonst beworben«, sagte sie ruhig. »Ich würde gerne für Sie arbeiten, weil ich glaube, dass Sie im Gegensatz zu den meisten Abgeordneten etwas verändern können, und ich würde gerne daran mitwirken. Sie sind zwar nicht der erste muslimische Migrant im Bundestag, aber der erste, den nicht nur Muster-Einwanderer, sondern auch viele gläubige Muslime ernst nehmen. Ich bin gespannt, wie Sie unsere Positionen zu Gehör bringen werden.«
    »Unsere Positionen?«
    »Das, was uns bewegt.«
    »Die Grünen?« Lutfi Latif lächelte immer noch.
    Sumaya hingegen spürte, dass sie kurz davor war zu erröten. Er will, dass ich es ausspreche, dachte sie . Also gut. »Herr Latif, ich glaube, Sie wissen genau, was ich meine. Es gibt in Deutschland, bei allen Unterschieden, gemeinsame Belange von Migranten und insbesondere muslimischen Migranten, die bisher nicht prominent vertreten werden, aber diskutiert gehören.«
    »Zum Beispiel?«
    »Na ja, ich finde, es hat zum Beispiel viel mit Worten zu tun, mit Sprache: dass wir hierher gehören genau wie alle anderen. Dass wir Teil dieser Gesellschaft sind. Auch wenn wir anders sind.«
    »Das hat doch sogar der Innenminister schon gesagt, oder nicht?«
    »Ja, aber er meint es nicht so.«
    »Wieso sind Sie sich so sicher?«
    »Gut, vielleicht hat auch der Innenminister dazugelernt. Aber er kennt uns nicht. Für ihn sind wir doch nur eine graue Masse, die man irgendwie am Auseinanderfliegen hindern muss, zur Not durch Besänftigung. Aber Anerkennung ist etwas anderes. Es fehlt der Respekt, die Selbstverständlichkeit, die Lockerheit im Umgang. Und vor allem das Gespür dafür, dass wir kein Problem und keine Herausforderung sind.«
    »Nennen Sie mir ein Beispiel«, bat der Abgeordnete, der jetzt sein Kinn auf seine Hand stützte und Sumaya konzentriert anblickte.
    Sumaya überlegte, wann sie sich zuletzt geärgert hatte. Gestern war das gewesen, als sie die Zeitung gelesen hatte, ein kurzer Text nur, über irgendeinen Verrückten aus dem Saarland, 19 Jahre alt, der nach Waziristan, ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet, ausgewandert war, weil er von dort aus gegen die Amerikaner kämpfen wollte, als Mudschahid , und nun in Videobotschaften um Nachahmer buhlte.
    »Nehmen Sie zum Beispiel die Art und Weise, wie über Konvertiten geredet wird, nur weil zwei oder drei oder meinetwegen auch ein paar mehr von ihnen nach Pakistan oder
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