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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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Tag nach dieser Nominierungsrede: »Lutfi Latif war nicht der Grüne, nicht der Muslim oder der Migrant, den man nach der Wahl im Bundestag sehen will, sondern all das zusammen – und mehr. Denn er war schlicht und ergreifend der Kandidat, den sich wahrscheinlich jeder wünscht. Der Mann, mit dem jeder politisch denkende Mensch gerne befreundet wäre. Der Politiker, von dem man vertreten sein möchte, wenn es um die Herausforderungen der Zukunft geht, weil er sie verstanden hat.«
    Zwei Tage darauf war die Verliebtheit des Anzeigers freilich wieder verflogen. Das Blatt brachte einen Text, in dem anhand von »Dokumenten, die dieser Zeitung vorliegen«, zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass ein Urgroßonkel Lutfi Latifs Teil der berüchtigten Delegation des Palästinenserführers Amin al-Hussaini gewesen war, der mitten im Zweiten Weltkrieg Hitler in Berlin besucht hatte. Lutfi Latif hatte mit nur einem Satz auf die Story reagiert: Er sei froh, in einem Land zu leben, in dem die kritische Beschäftigung mit der Familiengeschichte eine allgemein akzeptierte und erprobte Praxis sei, um Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Das klang angenehm freundlich und angemessen unverbindlich. Bis in seiner nächsten Ausgabe der Globus , eines der wichtigsten Nachrichtenmagazine des Landes, süffisant enthüllte, dass der Großvater des Verfassers des Anzeiger – Artikels KZ – Aufseher gewesen war, während ein anderer Urgroßonkel Lutfi Latifs zur selben Zeit als Mitglied einer muslimischen Partisanenbande auf dem Balkan die Wehrmacht mit Sabotageakten bekämpft hatte.
    Noch heute musste Sumaya bei dem Gedanken an diese Replik lächeln. Obwohl sie nicht wusste, ob Lutfi Latif von dieser Verstrickung Kenntnis gehabt hatte, neigte sie der Ansicht zu, dass es so gewesen sein musste. Mittlerweile lag die Bundestagswahl zwei Wochen zurück, und Lutfi Latif hatte tatsächlich ein Mandat errungen. Sumaya trank den letzten Schluck Tee aus ihrem Glas. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken: Mit ein bisschen Glückwürde sie schon bald wissenschaftliche Mitarbeiterin in Lutfi Latifs Abgeordnetenbüro sein.
    Mit einem Blick auf ihre Uhr stellte Sumaya fest, dass es bereits Viertel vor neun war: Zeit, aufzubrechen. Das Vorstellungsgespräch sollte in Kreuzberg stattfinden, wo nicht nur Sumaya lebte, sondern wo auch Lutfi Latif neben dem Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte, ein Wahlkreisbüro eingerichtet hatte. Es lag nahe der Ecke Skalitzer Straße und Oranienstraße, nicht weit entfernt von einem McDonald’s-Restaurant, dem ersten und bislang einzigen in Kreuzberg, dessen Eröffnung vor wenigen Jahren von heftigen Debatten, Demonstrationen und sogar ein paar Farbbeutelattacken begleitet worden war. Von Sumayas Wohnung im Wrangelkiez aus waren das nur ein paar Minuten Fußweg. Sie musste bloß ein Stück an der viel befahrenen Skalitzer Straße unter der Hochbahn entlanglaufen.
    Sumaya fühlte sich wohl in Kreuzberg, auch wenn es nicht der schönste und schon gar nicht der harmonischste Teil der Stadt war. Aber er war bunt. So bunt, das sie selbst nicht weiter auffiel, jedenfalls nicht, weil sie keine Biodeutsche oder Kartoffel war, was ihr lieb war. Es gab in Kreuzberg Künstler, Verrückte, Junkies, Nacktvolleyballer, Anarchisten, Hartz- IV – Empfänger, Machos, Reiche, Arme, Mischungen aus fast alledem und generell Menschen in allen Formen und Farben. Wenn ihr eines an dem Leben in der norddeutschen Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, nicht gefallen hatte, dann, dass sie eine Exotin gewesen war. Dass nämlich vom Kindergarten angefangen sich praktisch jeder nach ihrem Namen, ihrer Herkunft, ihrer Identität erkundigt hatte, als sei das nichts Intimes, sondern Allgemeingut. Nicht dass sie es den Fragestellern übel genommen hätte, aber sie mochte es nicht. Weil es sie besonderer machte, als sie es war. Oder doch zumindest aus den falschen Gründen. In Kreuzberg war das anders, und wenn man als Araberin hier zu einer Minderheit gehörte, dann nur, weil es noch mehr Türken gab.
    Der flache Bau des McDonald’s-Restaurants kam nun in ihr Blickfeld. Sie erinnerte sich gut an die Proteste anlässlich der Eröffnung. Dessen Träger waren damals hauptsächlich Angehörige jenes merkwürdigen Stammes von Kreuzbergern gewesen, die sich alsUreinwohner ehrenhalber betrachteten, weil sie schon vor kleinen Ewigkeiten aus Westdeutschland hierher gezogen waren. Teils hatten sie dies getan, um dem Wehrdienst zu entkommen,
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