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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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prophezeit, dass bald niemand mehr geschliffene Repliken auf die Antiterrorgesetze des Bundestages aus Lutfi Latifs Mund vernehmen würde. »Susu, glaub mir: Auch Lutfi wird bald von Parallelgesellschaften reden und von fördern und fordern , und dem ganzen Scheiß !« Sumaya hatte Fadi entgegnet, er solle abwarten. Aber warten war nicht Fadis Stärke. Für ihn war das Besondere an Lutfi Latif gewesen, dass er niemandem verpflichtet war außer seinem Gewissen und seinem Glauben. Und während das zwar, wie auch Fadi, der kein Student der Politikwissenschaft, sondern Inhaber eines Internetcafés war, genau wusste, theoretisch auch für Abgeordnete galt, meinte er doch ebenso gut auch die Praxis zu kennen, die für eben diese Abgeordneten letztlich vor allem aus Fraktionszwang, Lobbyistenempfängen und der Jagd nach immer besseren Posten und Pöstchen und immer mehr Sekunden in der Tagesschau bestand.
    Nach der Ankündigung der Kandidatur druckten Zeitungen und Magazine wochenlang Porträts über den unwahrscheinlichen Kandidaten, der noch nie zuvor Kommunalpolitik betrieben oder Parteiarbeit geleistet hatte und bisher nicht einmal Mitglied der Grünen war. Nicht wenige Autoren verglichen ihn dabei mit Barack Obama. Zum einen wegen seines Äußeren, weil Lutfi Latif ebenfalls sehr schlank, groß und sportlich war, außerdem ähnlich jung und dynamisch wirkte, und darüber hinaus genau wie der US – Präsident mit einer Anwältin verheiratet war und zwei Töchter hatte. Zum anderen aber, weil er gleichfalls über besondere rhetorische Gaben verfügte, was Lutfi Latif in der Folge nicht zuletzt auf dem Nominierungsparteitag der Berliner Grünen demonstrierte.
    Sumaya war damals eigens dorthin gefahren, ohne dass sie jemals zuvor etwas mit der Partei zu tun gehabt hätte und ohne Fadi oder Mina oder sonst jemandem Bescheid zu sagen. Sie hatte LutfiLatif einfach einmal erleben wollen. Sie wollte sehen, ob er auch in so einer Situation authentisch wirken würde. Sie wollte sich ihr eigenes Bild machen.
    An einen Betonpfeiler im hinteren Drittel der grauen Mehrzweckhalle gelehnt, die mit Sonnenblumen, grünen Plakaten und passenden Vorhängen vorübergehend aufgehübscht worden war, damit in der Tagesschau ein wenig Atmosphäre vorgetäuscht werden konnte, hatte Sumaya seiner Rede zugehört. Lutfi Latif sprach leise, ruhig und eindringlich. Er drängte sich nicht auf, sondern vermittelte vielmehr den Eindruck, dass er mit seiner Kandidatur einen interessanten Vorschlag machte. Die Abwesenheit jedes Schimmers von Nervosität verstärkte dabei noch den Eindruck, dass dem Redner mutmaßlich tausendundeine Alternativen zu diesem Schritt offenstanden. Es war eine eher kurze Rede gewesen, kein Wort zu viel.
    Er habe nicht vor, sich anzubiedern, stellte Lutfi Latif zu Beginn klar: »Ich weiß, es ist unter Grünen üblich, sich als ›Freundinnen und Freunde‹ anzusprechen. Ich werde das nicht tun. Ich bin erst seit 48 Stunden offizieller Grüner. Sie wissen das, und ich will Ihnen nicht vorspielen, dass mein ganzes Leben auf diese Partei, diesen Tag oder diese Kandidatur zugesteuert ist. Aber ich will Politik machen, ich will sie mit Ihnen machen, ich will sie jetzt machen. Und ich würde mich freuen, wenn Sie meine Kandidatur als ein Angebot betrachten, ein faires Angebot, wie ich meine, ein sinnvolles, wie hoffentlich auch Sie finden.«
    Lutfi Latif legte dar, wieso fast alle seiner Vorstellungen zu denen der Partei passten und jene, die nicht dazu passten, bald zu Vorstellungen der Grünen werden könnten. Er führte aus, warum es von Vorteil wäre, unter den vielen Profis einen Laien in der Fraktion zu haben, der womöglich da ein Profisei, wo sie vielleicht Laien seien. Er versicherte, dass er die letzten Wochen mit dem Studium der grünen Parteigeschichte verbracht habe. »Nicht am Stück, aber durchaus ernsthaft und gründlich.« Er erklärte, dass er an politische Redlichkeit und die Kraft von guten Argumenten glaube, genügend Beispiele für beides in ihrer Geschichte gefunden habe und sich deshalb in der Partei gut aufgehoben fühle. Zum Schluss erklärte Lutfi Latif, warum es zudem eine gewisse Dringlichkeit gebe, ihn gerade jetzt aufzustellen.
    Die Delegierten applaudierten lange.
    Und auch die veröffentliche Meinung war angetan. Der Anzeiger etwa, eine konservative Zeitung, die großen Wert darauf zu legen schien, dass bei ihr kaum je ein Muslim in einem irgendwie als positiv zu deutenden Kontext vorkam, schrieb am
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