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Racheopfer

Racheopfer

Titel: Racheopfer
Autoren: Ethan Cross
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kleinen Fingers. Weiße Flecken tanzten vor ihren Augen, als der Schmerz sie von Kopf bis Fuß durchraste. Sie ließ sich hineintreiben in das Leid, schloss es in die Arme und versuchte, sich darin zu verlieren. Sie zitterte am ganzen Körper, wobei sie schrie und schrie … bis sie den Schmerz nicht mehr ertragen konnte.
    Sie wollte sterben.
    Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, noch eine Sekunde zu leben, noch einmal zu atmen. Mit einer Behändigkeit, die sie selbst überraschte, sprang sie vom Tisch und rief durch die Gitterstäbe: »Töten Sie mich! Bitte! Machen Sie allem ein Ende! Ich will nur noch, dass es vorbei ist …«
    Ihre Worte gingen in verzweifeltem Schluchzen unter.
    Ackerman neigte den Kopf zur Seite und schien sie genau zu studieren. Dann blickte er weg, dann zurück zu ihr, dann wieder weg. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schüttelte aber nur den Kopf und ging davon.
    Jennifer schlug mit beiden Fäusten gegen das Gitter und schrie ihm hinterher. Verfluchte ihn. Warf ihm jedes hässliche Wort an den Kopf, das ihr einfallen wollte. Krallte die Hände um die Eisenstäbe, schüttelte die Tür zum Käfig. »Warum? Warum lassen Sie mich leben?«
    Auf halber Höhe der Treppe blieb Ackerman stehen und blickte sich um.
    Jennifers Rufe und Schreie verstummten, als sie auf die Antwort wartete, auf die Lösung eines Rätsels, an dem sie sich ihr halbes Leben lang das Hirn zermartert hatte.
    Während Ackerman sich die Antwort zu überlegen schien, merkte Jennifer ihm eine tiefe Traurigkeit an. Sie spürte, dass er ihr etwas sagen wollte, spürte aber auch, dass er es unterdrückte.
    »Bitte! Ich muss es wissen.«
    Er hob den Blick zu ihr, und seine Miene verhärtete sich. Der Mann aus ihren Albträumen war wieder da. »Mir erschien es damals als das Grausamste, was ich Ihnen antun konnte, so wie es mir jetzt als das Grausamste erscheint, David und Sie leben zu lassen. Auf Wiedersehen, Jennifer!«
    Mit diesen Worten ging er davon.
    Jennifer spürte das Gewicht jedes Schrittes. Der Druck nahm zu, je näher Ackerman der Freiheit kam. Sie sank an den Gitterstäben ins Wasser. Dann hörte sie, wie die Hintertür geöffnet wurde. Das feine, leise Geräusch von Nieselregen wehte die Treppe herunter.
    Dann war er fort, ein Schatten, der mit der Nacht verschmolz.
*
    Als sie endlich jemand fand, hatte Jennifer sich nicht von der Stelle gerührt. Bevor die Rettungssanitäter sie wegführten, versuchte sie David zu sagen, dass es ihr leidtue.
    Er schaute ihr zum ersten Mal, seit sie ihre Entscheidung getroffen hatte, in die Augen. Er schien nicht wütend zu sein. Seine Augen brannten nicht vor Hass. Aber das war kein Trost für Jennifer, denn das Gefühl, das von ihm ausging, schmerzte sie stärker, als aller Hass es je gekonnt hätte: Sie spürte, dass er sie bemitleidete.
    »Eines Tages«, sagte er leise, »zahlen wir alle den Preis für das, was wir getan haben. Dann zieht man uns zur Verantwortung. Mich, Ackerman und auch dich.«

31
    Ackerman blieb kurz stehen, um zu Atem zu kommen, beugte sich vor und legte die Hände auf die Knie. Die erhabene Stille des Manistee National Forest umfing ihn. Sein Atmen und das Zirpen der Insekten waren die einzigen Geräusche. Er blickte zum Himmel, um festzustellen, in welche Richtung er sich bewegte. Der Regen war in leichten Nebel übergegangen, der Ackerman Kühle spendete, während er lief und lief und lief, und die Sterne und der Vollmond boten ihm gerade ausreichend Licht, dass er sich im rauen Gelände orientieren konnte. Ein süßer Duft nach Ozon und Moos füllte seine Nase.
    Er hatte sich über Meilen hinweg angetrieben, über seine Grenzen hinaus, und er wusste, dass seine Beine nicht mehr lange durchhielten. Taubheit war ihm in die Glieder gekrochen, und es bestand die Gefahr, dass die Benommenheit ihn wertvolle Zeit kostete.
    Er musste die Zivilisation erreichen, ehe seine Verfolger ihn einholten. In den Wäldern konnten sie ihn aufspüren. Ihre Hunde und die Hubschrauber mit den Wärmedetektoren würden ihn zwischen den Bäumen leicht ausmachen. Doch wenn er eine Stadt oder ein Dorf erreichte, wo er einen Wagen stehlen, auf einen Zug aufspringen, sich in einem Laster verstecken oder sich irgendein anderes Transportmittel beschaffen konnte, war er frei.
    Er konnte mit der Menge verschmelzen. Er konnte ein Chamäleon sein und sich vor aller Augen verbergen. Diese Fähigkeit hatte er sich vor langer Zeit angeeignet. Ohne sie konnte er nicht
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