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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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Über die bunten Mützen hinweg sah Flora das Hochhaus. Dort wohnte das Mädchen, das sie hatte zerstören wollen und das Flora geliebt hatte wie eine Schwester. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Gab es nicht vielleicht doch noch eine winzig kleine Hoffnung, dass alles ganz anders gewesen war? Im Nähergehen spürte sie, wie ihre Finger zitterten. Würden sie auf den Klingelknopf drücken können?
    Doch bevor sie die Haustür auch nur sah, kamen ihr zwei Männer entgegen, der eine groß, der andere klein und zart. Schmittberger und Viereth.
    »Haben Sie Frau Meyer-Grabow irgendwo gesehen? Wissen Sie etwas über ihren Aufenthaltsort?«, rief ihr Schmittberger schon von Weitem zu. Flora schüttelte den Kopf.
    »Fahnden Sie nach ihr?«, fragte Flora und erwartete gar keine Antwort.
    »Wir würden uns jedenfalls sehr gerne mit ihr unterhalten«, antwortete Viereth. »Kennen Sie einen Arlindo N’tyamba?«
    »Nein«, sagte Flora schnell. Und sie sagte die Wahrheit. Sie kannte ihn nicht. Sie wusste, dass es ihn gab, wer er war. Aber kennen? Das konnte sie ruhigen Gewissens verneinen.
    »Frau Meyer-Grabow hat angegeben, zu ihm gefahren zu sein an dem fraglichen Abend. Nach dem Training. Als wir heute Morgen in der Schule mit ihr gesprochen haben, da wirkte sie sehr… sagen wir mal, vernünftig. Glaubhaft.« Sie dagegen haben uns fantasievolle Schauermärchen aufgetischt. Das würde er sicher sofort sagen. Aber es kam nichts mehr. Der Hauptkommissar wusste sicher, dass seine Andeutungen auch so bei Flora ihre Wirkung nicht verfehlen würden.
    Flora nickte kurz, drehte sich um und wollte gehen.
    »Frau Harnasch«, rief ihr Schmittberger hinterher. »Sie wissen ja, dass Sie in der nächsten Zeit in der Stadt bleiben sollten. Falls wir noch Fragen an Sie haben.«
    Carina hatte Arlindo verraten. Sie hatte ihn preisgegeben, um ein Alibi zu haben. Oh Gott, durchfuhr es Flora. Wie kann ich nur so denken? Ich weiß doch gar nicht, ob Carina nicht tatsächlich bei Arlindo gewesen war! Ob sie nicht doch aus der Turnhalle hinaus und schnurstracks zu ihrem Geliebten gelaufen war? Wieso bin ich so sicher, dass sie, nachdem ich fort war, wieder zurück in die Turnhalle gelaufen ist? Aber wie sollte dieser schreckliche Unfall sonst passiert sein? Gab es doch noch jemand anderen?
    Sie lief schneller und schneller, sie musste Arlindo finden, er würde ihr die Wahrheit sagen, ihm allein konnte sie trauen.
    Schon von Weitem sah sie, dass noch immer kein Kranführer in dem glasigen Kabuff unterhalb des Auslegers saß. Dort war sie heute Morgen hinaufgestiegen? Unfassbar! Sie spürte, wie schwach sie sich fühlte, wie sie sich nach einem Ruheplatz sehnte, am liebsten mit Ausblick aufs Meer.
    An der Baustelle herrschte emsiges Treiben. Die Störung von heute Morgen musste wieder eingearbeitet werden. Flora traute sich nicht, nach Arlindo zu fragen. Die Bauarbeiter waren sicher sauer auf sie. Sie ging unschlüssig auf und ab, versteckte sich hinter dem stinkenden Dixi-Klohäuschen, als sie den Polier auf sich zukommen sah, und war froh, als er wieder außer Sichtweite geriet.
    Die Tür des Klohäuschens öffnete sich und ein Bauarbeiter trat heraus. Er entdeckte Flora und grinste sie spöttisch an.
    »Suchst du Freund?«, fragte er mit einem osteuropäischen Akzent und sie dachte im ersten Augenblick, er wolle sie anbaggern. Sie schüttelte energisch den Kopf und wandte sich zum Gehen.
    »Arlindo, oder?«, rief er ihr nach und sie blieb stehen, drehte sich langsam zu ihm um.
    »Ist nicht da, verschwunden in Luft«, sagte er. »Vielleicht besser, oder?« Er kratzte sich unter seinem gelben Helm. Er hatte braune Augen, eine kräftige Nase und ein Dreitagebart umspannte sein kräftiges Kinn.
    »Wissen Sie vielleicht, wo er wohnt?«, traute sich Flora zu fragen. Der Arbeiter kam ein bisschen näher. Er roch stark nach Schweiß. Er zuckte mit den Schultern.
    »Weiß nur, wo Bauwagen steht, wo er nachtet. Kennst Dechsi, Weiher? Straße von gelbes Vogel, ›Wilga‹ wir sagen in Polen. Du verstehst?« Flora schüttelte den Kopf.
    »Ah, ich nicht mehr wissen, wie Straße auf Deutsch. Ist bisschen Wald, bisschen neue Haus. Okay? Muss jetzt zuruck an Arbeit. Okay?«
    »Danke«, rief Flora und hatte sich schon in Bewegung gesetzt.
    Je weiter sich der Bus Dechsendorf näherte, umso stärker klopfte ihr Herz. Hoffentlich würde sie Arlindo finden. Sie wusste noch immer nicht, was der nette Bauarbeiter mit der Straße des gelben Vogels gemeint hatte,
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