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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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ihrem jüngeren Bruder Lucas und ihrer Mutter in Nürnberg angekommen war. »Ey, krass«, hatte der Elfjährige beim Landeanflug gerufen. »Schaut mal, wie klein das alles ist. Wo sind denn die Häuser? Wohnen da auch irgendwo Menschen oder müssen wir im Wald leben?« Leticia hatte ihm lachend eine Locke aus der Stirn gestrichen und mit ihrer weichen, melodischen Stimme erklärt, dass Nürnberg eben nicht so groß sei wie Rio de Janeiro, wo man den Eindruck habe, der Atlantik gehe einfach über in ein nicht enden wollendes Meer aus Häusern, bevor irgendwann der internationale Flughafen Galeão Antônio Carlos Jobim auf der Gouverneurs-Insel aus dem Wasser auftauchte.
    »Papa hätte garantiert wieder gesagt, er würde sich wünschen, dass man in seiner Heimat auch mal einen Flughafen nach einem Musiker benennt so wie in Rio«, lachte Flora.
    »Ja«, ergänzte Lucas. »Und dann hätte er dieses langweilige ›Girl from Ipanema‹ gepfiffen und Mama in den Po gezwickt.« Leticia lächelte angestrengt. Für Flora und Lucas war der über zwölfstündige Flug nicht weiter erwähnenswert, Leticia dagegen wirkte wie zerschlagen. Dunkle Ränder gruben sich unter ihren Augen ein, die genauso groß und ausdrucksstark wie die ihrer Tochter waren. Wahrscheinlich hatte sie heute Nacht keine Stunde geschlafen.
    »Wann waren wir eigentlich das letzte Mal hier?«, wollte Lucas wissen, während das große Flugzeug mit leichtem Holpern auf der Landebahn aufsetzte.
    »Ich glaube, zu Omas Beerdigung vor zwei Jahren«, überlegte Flora und schlagartig wurde ihr klar, dass dies hier kein Flug in die Ferien war. Dies war der Flug in ein neues Leben.
    Ohne ein Rückflugticket im Gepäck.
    Theo Harnasch stand pünktlich um 6.30 Uhr in der Ankunftshalle mit einem großen Schild bereit, auf das er – oder vielleicht seine Sekretärin? – »Bem Vindos«, herzlich willkommen, geschrieben hatte. Lucas rannte »Papai-Papai« rufend auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Flora entschied sich für eine etwas gemäßigtere Gangart. Ihr Vater sollte nicht glauben, dass sie sich inzwischen mit der Tatsache angefreundet hatte, in Deutschland ihr Abitur zu machen.
    »Bald bin ich 18 und dann kann ich gehen, wohin ich will!«, hatte sie immer wieder erklärt. Doch Theo hatte sie mit diesem überheblichen Lächeln gemustert, das er sonst nur unfähigen Assistenten gegenüber aufsetzte, und erwidert: »Und wer soll deinen Unterhalt zahlen? Rio – so wie du es gewohnt bist – ist teuer.« Und damit war das Gespräch für ihn beendet. Flora hasste an ihrem Vater nichts mehr als sein Talent, Diskussionen ins Leere laufen zu lassen. Sie konnte insistieren, immer wieder neue Fakten ins Feld führen, gurren, schimpfen – er wandte sich einfach einem ihm genehmeren Thema zu und die Sache war für ihn erledigt.
    »Ich finde es toll, dass du auf meiner alten Schule dein Abi machen wirst«, hatte er gestrahlt. »Du wirst es lieben. Du kannst Theater spielen und Musik machen. Ich freu mich so, wenn du deine Klarinette wieder auspackst.«
    »Schade, dass du trotz musischem Gymnasium so ein langweiliger Ingenieur geworden bist«, giftete Flora. »Sonst wärst du jetzt Musiker in Brasilien und dabei würde es einfach bleiben. Scheißkarriere!« Dann hatte sie ihm den Rücken zugekehrt und das Zimmer verlassen.
    Als sie ihm nun am Flughafen gegenüberstand, spürte sie zu ihrer Verwunderung, wie froh sie war, ihn wiederzusehen. Theo Harnasch war bereits vor drei Monaten in seine alte Heimat Erlangen zurückgekehrt, wo er nach 23 Jahren in Brasilien jetzt als CEO der Abteilung »Erneuerbare Energien« in den Mutterkonzern berufen worden war. Flora hatte sich nie so recht vorstellen können, was ihr Vater den ganzen Tag lang tat – aber er musste wohl viel zu tun haben, denn er war selten zu Hause gewesen. Und in Erlangen würde sich das mit Sicherheit nicht bessern, jetzt, wo er weiter aufgestiegen war.
    »Minha princesa«, begrüßte er sie und nahm sie fest in den Arm. »Es tut so gut, euch wieder bei mir zu haben!«
    Flora machte sich los. Ihre Freude war augenblicklich eingedämmt. Am liebsten hätte sie ihm ihren Ärger vor die Füße gespuckt: »Wie’s uns dabei geht, ist dir natürlich egal.« Aber sie schwieg. Ihre Mutter hatte sie während des Fluges mehrmals gebeten, doch bitte schön nicht gleich wieder einen Streit vom Zaun zu brechen, sobald sie deutschen Boden betraten. Flora solle Deutschland eine Chance geben, hatte Leticia sie beschworen. Und weil
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