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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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Borderline-Persönlichkeitsstörung in einer schweren Verlaufsform diagnostizieren. Die Patientin erfüllt zahlreiche Kriterien, die im DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) in Zusammenhang mit dieser Krankheit aufgeführt werden. Aufgrund der oben ausgeführten Beobachtungen und den sich daraus ergebenden Deutungen war die Patientin zur Zeit des Unfalls vermindert straffähig. (…) Wir sehen es als dringend erforderlich, die Patientin stationär in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung unterzubringen, um Gefährdung ihrer selbst und anderer auszuschließen.«
    Es war schon früher Nachmittag, als sie endlich das Polizeipräsidium verlassen konnten. Ein Streifenwagen fuhr sie nach Hause. Flora hatte es tatsächlich geschafft, all die Bruchstücke zusammenzufügen, sodass sie eine einigermaßen stimmige Geschichte ergaben. Zumindest hatte sie den Eindruck gehabt. Ob Schmittberger und Viereth ihr glaubten, konnte sie nicht genau einschätzen. Aber das Wichtigste war, es selbst zu glauben. Dass Carina all diese schrecklichen Ereignisse eingefädelt hatte. Nein, natürlich konnte sie es nicht glauben. Wie auch? Das Warum in ihrem Kopf wurde immer größer, drohte ihren Schädel zu sprengen. Sie fühlte, wie es hinter ihren Schläfen hämmerte. An dem Warum kletterte eine Schlingpflanze empor, die sie erwürgen würde – war Carina schuld an Yanniks Zustand? War sie zu ihm in die Turnhalle gegangen, nachdem Flora fortgelaufen war? Hatte sie das Tor zugeschmettert, sodass er…? Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Sie wusste nicht, wie sie ein Korn der Hoffnung in ihrem Herzen einpflanzen konnte. Was, wenn er doch nicht überlebte? Oder auf Dauer kein normales Leben mehr würde führen können? Nirgends eine Antwort.
    Als sie wieder in ihrem Wohnzimmer standen wie zwei überflüssige Möbelstücke, sagte Leticia leise und ohne Flora anzuschauen: »Hoffentlich glauben sie dir, dass du nicht mehr in der Turnhalle warst, als das Tor herunterkrachte.« Flora zuckte zusammen.
    »Du hast nicht wirklich ein Alibi«, fuhr sie fort.
    »Hör auf«, schrie Flora sie an. Sie wollte wegrennen, aber sie wusste nicht, wohin. Sie würde sich überall fehl am Platz vorkommen. So sank sie einfach erschöpft auf das Sofa. Leticia ließ sich neben sie fallen.
    »Glaubst du mir nicht?«, flüsterte Flora nach einer Weile.
    »Doch. Ja.«
    Flora hörte das »Aber«, bevor Leticia es aussprach.
    »Aber… du bist so verändert. Ich weiß schon, du hast viel mitgemacht. Und ich bewundere die Kraft, mit der du das alles durchgestanden hast. Aber vielleicht…«
    Flora richtete sich auf. Sie wollte es jetzt hören. Sollte es endlich jemand aussprechen. Dass sie verrückt war.
    »Vielleicht, ich weiß nicht, du bist da in etwas reingeraten. Es ist unkontrollierbar geworden. Du solltest dir helfen lassen. Wirklich! Nach Brasilien zurückzugehen, ist keine Lösung. Du hast dich selbst immer im Gepäck.«
    Flora betrachtete ihre Mutter wie eine Fremde. Die ihr niemals fremd sein würde, dafür sahen und waren sie sich viel zu ähnlich. Wie würde sie sein, wenn sie so alt wäre wie Leticia? Hätte sie eine Tochter, der sie die abscheulichsten Dinge zutrauen würde?
    »Flora, ich weiß selbst nicht, was ich denken soll! Und ich mache mir auch Vorwürfe – wir haben dich vielleicht nicht genügend unterstützt. Aber du hast immer so stark gewirkt – als wolltest du sagen, ich brauche eure Hilfe nicht.« Die Verzweiflung war deutlich zu hören. Aber Flora hatte keine Kraft, darauf auch noch einzugehen. Mühsam stemmte sie sich hoch.
    »Ich muss raus. Ich brauche Luft«, sagte sie, schnappte sich im Vorbeigehen ihre Jacke und öffnete die Haustür. Klaviermusik klang aus einem offenen Fenster des Nachbarhauses zu ihr hinüber. Wiegende Töne, in die sie sich am liebsten hätte fallen lassen. Ansonsten war es still auf der Straße. Ordentlich, sauber und aufgeräumt. Nur in Floras Kopf herrschte Chaos. Ziellos ging sie die Straße entlang, ohne darüber nachzudenken, wohin. Eine Sekunde hatte sie überlegt, ins Krankenhaus zu gehen, um Yannik zu sehen. Aber was, wenn man sie einfach fortschickte? Weil es so kritisch um ihn stand, dass… sie wagte nicht, weiterzudenken. Sie wollte sich ihren Funken Hoffnung nicht zerstören.
    Sie schreckte auf, als an der nächsten Kreuzung eine Horde Kindergartenkinder den Zebrastreifen überquerte. Wie die Schreie eines Vogelschwarms klangen ihre kleinen Stimmen.
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