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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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Annette ihn laut weinen hörte.
    Wahrscheinlich konnte das längst erwartete Telefonläuten nicht zu ihm durchdringen, aber Annette war sowieso schneller am Apparat. Wie schon vor wenigen Tagen fragte die aufgelöste Frau Ziesel nach Paul. Annette vermutete schlechte Nachrichten und rief ihren unrasierten Mann herbei. Seinem verstörten Ausdruck war anzumerken, daß er wohl nur noch mit Hiobsbotschaften rechnete.
    »Selbstverständlich! So schnell ich kann«, sagte er und lief zurück ins Bad, um sich hastig anzuziehen. Anscheinend sollte er sofort nach Mainz kommen.
    Obwohl sie nicht damit gerechnet hatte, bat Paul dann doch um ihre Begleitung; erst als beide im Wagen saßen, setzte er zu einer Erklärung an. Frau Ziesel war von einer Nachbarin seiner Eltern alarmiert worden, die nebenan das Krachen der Eternitabdeckung hörte und einen Feuerschein bemerkte. Pauls Elternhaus stehe in Flammen, aber zwei Löschwagen seien bereits eingetroffen. »Frau Ziesel verließ sofort ihre eigene Wohnung, lief in unsere Straße und hat mit dem Handy eines Polizisten hier angerufen.«
    »Was ist mit deinem Bruder?« fragte Annette. Vermutlich sei er der Brandstifter, sagte Paul und überlegte insgeheim, ob Achim ein Feuer gelegt hatte, um seinen Tod bloß vorzutäuschen. Es war natürlich ein Fehler gewesen, ihm zu vertrauen.
    Paul fuhr so schnell, daß Annette schon befürchtete, ein zweites Mal im Krankenhaus zu landen. Über lange Strecken sagte er nichts mehr und murmelte erst kurz vor dem Ziel: »Es ist auch meine Schuld«, ließ Annette aber im Ungewissen, was er damit meinte. Sie hakte nicht weiter nach, weil sie es bereits ahnte: Achim hatte bestimmt behauptet, er werde sich freiwillig stellen. Wahrscheinlich war Paul seinem Bruder auf den Leim gegangen und hatte ihn entkommen lassen.
    Vor Pauls Elternhaus war die Straße abgesperrt. Frau Ziesel und andere schaulustige Bretzenheimer reckten die Hälse und wurden von einem Polizisten zum Weitergehen aufgefordert; trotzdem nahmen Großväter ihre Enkel zwecks besserer Sicht auf die Schultern. Paul und Annette wurden sofort durchgelassen. Dichter Qualm, brenzlicher Geruch, zwei Tanklöschfahrzeuge und eine Drehleiter deuteten fast auf einen Großbrand hin. Ohne die Sirene einzuschalten, wendete der Fahrer eines Krankenwagens und fuhr davon.
    Es dauerte nicht lange, bis sich ein hustender Polizeibeamter mit Paul befaßte und ihn vor den Eingang des zerstörten Hauses begleitete. Schon auf den ersten Blick erkannte Annette, daß das Feuer eine weitgehende Vernichtung angerichtet hatte. Ein dritter Löschzug, der das Übergreifen auf die benachbarten Gebäude verhindern sollte, wurde gerade wieder abgezogen. Da die angrenzenden Häuser durch große Gärten getrennt waren, hielt man ein Überspringen der Funken für unwahrscheinlich.
    Zunächst teilte ihnen der Polizist bloß mit, daß man einen BMW abgeschleppt und auf den Hof des Präsidiums gestellt hatte. Als er das Paar schonend vom Fund einer männlichen Leiche in Kenntnis setzte, versuchte Annette vergeblich, Pauls Hand zu halten. Er hatte beide Fäuste zusammengeballt und behauptete mit bemerkenswerter Kälte, der Tote müsse sein Bruder sein. Die Aufforderung, den Verstorbenen zu identifizieren, verweigerte er ohne Begründung.
    »Mein Mann ist mit den Nerven am Ende«, schaltete sich Annette ein, »finden Sie nicht, daß solche Formalitäten noch Zeit haben? Wenn Sie allerdings auf der Stelle wissen müssen, wer der Tote ist, dann kann ich das ebensogut übernehmen.«
    Einen Augenblick schien Paul zu schwanken, ob er diese Pflicht auf seine Frau abwälzen konnte, sagte aber nur: »Falls es die Sache erleichtert: Mein Bruder hat ein Muttermal am Rücken.«
    Tatsächlich führte man Annette fort und nach Erfüllung ihres Auftrags auch wieder zurück. Die Identifizierung war nicht ganz so gräßlich gewesen, wie sie erwartet hatte, nur die toten Taubenaugen taten weh; doch immerhin hatte sie ihren Mann entlastet. Leicht verstimmt stellte sie jetzt fest, daß Paul unterdessen den Tatort verlassen hatte. Da sich ihr Auto aber noch an Ort und Stelle befand und die Wagentür unverschlossen war, ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen.
    Nach einer halben Stunde registrierte Annette, daß der Brandmeister den Aufbruch anordnete. Sie stieg aus, um sich ein wenig Bewegung zu machen, und sprach mit einem der beiden Feuerwehrmänner, die als Wache dageblieben waren. »Ihr Mann ist dorthin gegangen«, sagte er und wies in Richtung
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