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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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Innenstadt. »Unseren heißen Kaffee lehnte er zwar ab, aber vielleicht hat er doch noch Durst bekommen.«
    »War es ein Verbrechen?« fragte Annette.
    Es sehe ganz nach Brandstiftung aus, sagte der Mann, denn er habe in unmittelbarer Nähe des Toten einen Benzinkanister gefunden. Allerdings wolle er keine Verdächtigungen aussprechen, denn die Ermittlung sei nicht seine Aufgabe.
    Ob das gesamte Mobiliar zerstört sei, wollte Annette wissen.
    »Was haben Sie denn erwartet? Erst das Feuer, dann das Löschwasser!« meinte er. »Nur im Keller sieht es etwas besser aus. Haben Sie Kinder?«
    Annette schüttelte den Kopf.
    Im Trockenraum hingen Plüschtiere an der Leine, sagte er belustigt, die hätten als einzige überlebt. Kaum hatte er es ausgesprochen, wurde ihm bewußt, daß er in ein Fettnäpfchen getreten war; verlegen hüstelnd ging er zu seinem Kollegen zurück.
    Es blieb Annette nichts anderes übrig, als auszuharren. In den Gärten blühten zwar die ersten Frühlingsblumen, doch sie fror, denn es war ein kühler, klarer Tag. Merkwürdigerweise waren jetzt alle Erinnerungsstücke an Pauls
    Mutter verbrannt, während die Kleidung ihres Schwiegervaters von Obdachlosen aufgetragen wurde. Auch dessen Uhr und die Manschettenknöpfe lagen bereits in Pauls Nachttischschublade.
    Nach einer halben Stunde tauchte Paul am Ende der Straße auf; er trug eine große Plastiktüte. Mißtrauisch ging ihm Annette entgegen.
    »Bevor alles zusammenstürzt und weiteren Schaden anrichtet«, sagte er, »soll das Haus abgerissen werden. Doch vorher will ich es noch dokumentieren.«
    Mit kindlichem Eifer griff er in seine Tüte und zeigte ihr einen DIN-A3 -Block, Stifte von unterschiedlichen Härtegraden, einen Spitzer und einen Radiergummi. »Eigentlich sollte man immer eine Grundausstattung mit Zeichenmaterial im Kofferraum haben«, meinte er, »es wird mir eine Lehre sein. Kannst du mal schauen, ob im Schuppen noch ein alter Korbstuhl steht?«
    Beim Stöbern im hinteren Garten entdeckte Annette eine winzige Narzisse, die sie als Andenken pflückte. Das zartgelbe Blümchen konnte man als Symbol der Hoffnung deuten, aber leider beachtete Paul die kleinen Tröstungen der Natur im allgemeinen nur wenig. Kaum hatte sie ihm einen verwitterten Stuhl herbeigezerrt, als er schon den Block aufschlug, einen Fluchtpunkt auf der Horizontlinie markierte und mit gestrichelten Diagonalen anpeilte. Übrigens werde er nie wieder als Rechtsanwalt arbeiten, sagte er so leise, als spräche er zu sich selbst.
    »Sondern?« fragte Annette und verstand nur mühsam sein undeutliches Knurren: »Was weiß denn ich? Tage-dieb oder Wandersmann, werdender Vater oder Ruinenmaler?«
    Die ratlose Annette hielt weitere Gespräche für sinnlos und suchte erneut Schutz im Auto. Völlig durchgefroren verließ sie nach endloser Wartezeit ihren Zufluchtsort, um die Wagenschlüssel zu holen und wenigstens die Heizung anzulassen. Immer noch saß Paul im Garten und zeichnete mit starren Fingern.
    »Wann fahren wir heim?« fragte sie.
    »Seit der Renaissance und bis ins 19. Jahrhundert war die Zentralperspektive ein Symbol für die abendländische Kultur«, sagte er, kniff ein Auge zu und hielt den Bleistift mit ausgestrecktem Arm von sich. »Schon Leonardo hat erkannt, daß Perspektive nichts anderes bedeutet, als die Welt hinter einer Glasscheibe zu betrachten und die Gegenstände dann auf diese Scheibe zu zeichnen. Allerdings manifestiert sich darin nur unsere europäische Sichtweise.«
    »Du zitterst ja! Paul, du kriegst noch eine Lungenentzündung. Komm heim, wir können hier nichts mehr ausrichten.«
    Er habe sein Leben lang alles durch ein trübes Glas gesehen. Aber vielleicht sei er gar nicht der Mittelpunkt des Universums, vielleicht sei die Zentralperspektive ein ganz großer Irrtum, sagte Paul, steckte sich die kleine Narzisse ans Revers und packte endlich seinen Kram zusammen.
    Staunend registrierte Annette, daß er den Stuhl eigenhändig in das Gartenhäuschen zurücktrug.
    Foto: Isolde Ohlbaum
    Ingrid Noll wurde 1935 in Shanghai geboren und studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Sie ist Mutter dreier inzwischen erwachsener Kinder. Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt sofort zu Bestsellern wurden.
    Der verträumte Paul und der jüngere, lebenslustige Achim sind Rabenbrüder, und auch in der Familie herrscht nicht ewiger Friede, als man sich zum Totenschmaus im Mainzer Elternhaus
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