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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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Häuschen. Papa fuhr mit mir ins
    Krankenhaus, und dort habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Im Kindergarten gab ich unentwegt damit an, daß wir das niedlichste Baby der Welt bekommen hätten. Auch in den nächsten Jahren war ich wahnsinnig stolz auf dich und gar nicht eifersüchtig, wenn Mama sich dauernd um dich kümmern mußte. Selbst als du mir immer wieder meine schönsten Zeichnungen vollgekritzelt hast, habe ich dich damals von ganzem Herzen geliebt.«
    Wann es denn mit der Liebe vorbei gewesen sei? fragte Achim.
    »Es wird wohl nie ganz aufhören«, antwortete Paul, »aber irgendwann kam Neid ins Spiel, weil sich alles nur um Mamas Herzblatt drehte. Als dann das Unglück mit dem kleinen Jungen geschah, hatte ich eine grenzenlose Wut. Später, als du mir als erwachsener Mann aufgetischt hast, du hättest mit Mama geschlafen, ist ein Stück brüderlicher Zuneigung unwiederbringlich vor die Hunde gegangen. Bis heute verstehe ich nicht, wie man sich so etwas Abartiges ausdenken kann!«
    Plötzlich hob Paul lauschend den Kopf, denn im Schlafzimmer schien Annette zu schluchzen.
    Sein Bruder erforderte indes größere Aufmerksamkeit, denn er machte jetzt den ersten Versuch, sich zu rechtfertigen. Alle folgenschweren Störungen in seiner Entwicklung erklärte er mit der mangelnden Zuneigung der Mutter. Schon als junges Mädchen habe die Mama im Schulchor in einer kleinen Solorolle geglänzt. Viele Zuhörer hätten ihr empfohlen, ihre Stimme ausbilden zu lassen, statt dessen hatte sie früh geheiratet und ein Baby bekommen. Als Paul mit drei Jahren in den Kindergarten kam, wollte sie endlich mit dem Gesangsunterricht beginnen; ihre Pläne wurden aber abrupt von einer erneuten Schwangerschaft durchkreuzt. Aus diesem Grund habe die Mutter ihren jüngeren Sohn von Anfang an abgelehnt, vielleicht hätte sie ein Mädchen eher akzeptiert. »Paul, nur du warst ihr ein und alles, der Kreative, der Hoffnungsträger, der Kluge. Mir fiel das Lernen unendlich schwer.«
    Achims Sicht der Dinge deckte sich nicht mit Pauls Erinnerungen. Nicht sein Bruder, sondern er selbst hatte allen Grund gehabt, zunehmend mißgünstiger zu werden. Tag für Tag mußte die Mutter dem Kleinen bei den Hausaufgaben helfen, während für ihren Ältesten nur ein paar hingehauchte Komplimente abfielen. Zum Dank für ihre Aufopferung wurde sie später auf die gemeinste Weise von ihrem Sorgenkind verleumdet. Und dafür wollte er jetzt endlich eine Erklärung haben.
    Zwar war Achim nie in psychologischer Behandlung gewesen, hatte sich aber trotzdem eine Sündenbockversion zurechtgelegt, die einem schlechten Therapeuten alle Ehre machte. Niemand anderes als die Mutter selbst hätte durch ihre demütigende Verhaltensweise seine Überreaktion ausgelöst.
    Einmal, als der Vater im Krankenhaus lag, sei er nachts ins Elternschlafzimmer geschlichen. Zugegebenermaßen war er schon längst erwachsen, hatte aber trotzdem Angstträume wie als Kind und wollte zur Mama ins Bett kriechen. Ob Paul ihre Reaktion erraten könne? Wie einen verkommenen Sittenstrolch habe sie ihren Sohn angebrüllt und hochkant rausgeschmissen. »Niemand kann ermessen, wie erniedrigt ich mich fühlte! Aber irgendwann wirst selbst du begreifen, daß man sich dafür rächen muß.«
    Das war also Punkt eins, sagte Paul, so sachlich wie möglich. Als nächstes stehe Heiko Sommer auf der Tagesordnung.
    Anfangs bewunderte Achim den viel älteren Heiko und hielt ihn für einen lustigen Spielgefährten, mit dem er so manche Nacht im Casino verbrachte. Bis io Uhr hatte die Küche der >Wildgans< geöffnet, wo Achim durch pures Zuschauen das Kochen erlernte. Ab elf begann das wahre Leben.
    In der ersten Phase ihrer Freundschaft zeigte sich Heiko Sommer großzügig und steckte Achim häufig Geld zu, ohne auf baldige Rückgabe zu bestehen. Nach und nach überzeugte ihn der geschäftstüchtige Gastronom, daß es aus steuerlichen Gründen vernünftig sei, einen Anteil seiner Erbschaft vorab zu verlangen. Wenn Heiko nicht gewesen wäre, hätte Achim noch die gesamte Summe auf dem Konto, jetzt war sie verspielt. Das war aber längst nicht alles.
    Immer wieder hatte Achim dem Freund von seiner gestörten Mutterbeziehung erzählt, und Heiko Sommer hatte Achims Haß und Vergeltungsphantasien lustvoll aufgegriffen und weitergesponnen. Eines Tages hatte er eine Idee, wie man es der Rabenmutter heimzahlen könnte. Gemeinsam führten sie für Paul ein Schmierentheater auf, um Achims Familie mit einer Lüge
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