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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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mir ja sowieso nichts und würdest mich am liebsten sofort ans Messer liefern!«
    Annette behauptete trotzdem, ihn wie ein Brüderchen zu lieben.
    Wahrscheinlich hatte sie damit wieder nicht den richtigen Ton getroffen, denn Achim geriet mehr und mehr in Rage. »Du lügst!« rief er. »Paul ist schließlich dein Mann, ich hatte von Anfang an die größten Skrupel, als du unbedingt mit mir schlafen wolltest! Wie kannst du das jetzt einfach leugnen!«
    In diesem Punkt bilde er sich leider zuviel ein, sagte Annette und wurde ihrerseits gehässig, sie sei kein bißchen scharf auf ihn gewesen. In absolut unfairer Weise habe er ihre hilflose Situation ausgenutzt.
    Durch diese Provokation brachte Annette das Faß zum Überlaufen. Mit einer eleganten, fließenden Wendung, die er wohl den Tai-Chi-Übungen seiner Mutter abgeguckt hatte, drehte sich Achim zur Vitrine und riß zielstrebig die Besteckschublade auf. Von den drei Tranchiermessern, die Annette von ihren Eltern geerbt hatte und nie benützte, schnappte er sich das längste.
    Im Unterbewußtsein hatte Annette seine Abartigkeit wahrscheinlich schon damals gewittert, als sie plötzlich ein Monster in ihm zu sehen meinte. Auch jetzt flackerte Mordlust in den Taubenaugen, und Dr. Jekyll mutierte zu Mr. Hyde. Das Irreale der Situation erinnerte so stark an einen Film, daß Annette sich im Kino wähnte und seine Bewegungen wie in Zeitlupe wahrnahm. Selbst als ihr gemeingefährlicher Schwager sich endgültig auf sie stürzen wollte, spürte sie eher Lampenfieber als Todesangst. Als Hauptdarstellerin konnte sie endlich zeigen, was sie aus zahllosen Filmen gelernt hatte.
    Flinker als Achim erreichte sie den Sessel, griff unter das Polster, bekam den ekligen Hirschkäfer zu fassen und zielte mit zitternder Hand auf den Gegenspieler. »Keinen Schritt weiter!« befahl sie mit tonloser Stimme, die nicht ganz zu ihrer Rolle als Flintenweib passen wollte.
    Leider zeigte sich Jack the Ripper nicht sonderlich beeindruckt. Nur durch eine schnelle elektrische Entladung war der Feind zu neutralisieren, aber Annettes Unerfahrenheit im Umgang mit Elektroschockern ließ sie an der Bedienung des Sicherheitsschalters scheitern. »Gib schon her«, sagte Achim, »das ist nichts für kleine Mädchen!«
    In diesem kritischen Moment beobachtete Annette, daß sich die Durchreiche zur Küche wie von Geisterhand geöffnet hatte. Paul mußte endlich nach Hause gekommen sein, und nie zuvor hatte sie eine so überwältigende Erleichterung empfunden. Die Gefahr war allerdings noch nicht gebannt, denn bevor ihr Retter eingreifen konnte, würden einige Sekunden vergehen. Statt also lauthals um Hilfe zu rufen und den Gegner dadurch zum Äußersten zu reizen, schleuderte sie die Waffe reaktionsschnell durch das Guckloch. Wenn sie Glück hatte, würde Achim seinem Spielzeug nachsetzen, auf den Bruder stoßen und wohl keinen Kampf gegen ihn riskieren.
    Doch bevor Achim entschieden hatte, ob er sofort zustechen oder erst einmal den Elektroschocker zurückho-len sollte, stürzte er und schlug mit dem Hinterkopf auf den Boden.
    Ehe Annette begriff, was passiert war, kam Olga wie eine Mänade aus der Küche gestürmt und ließ die Lackvitrine unter ihrem Kriegsgeschrei erbeben. Mit dem Fuß fegte sie das Messer aus Achims Reichweite, in der erhobenen Rechten hielt sie den Elektroschocker.
    »Wir müssen ihn fesseln, bevor er zu sich kommt!« brüllte sie.
    Der Schreck hatte Annette die Sprache verschlagen; stumm deutete sie auf die dicke Gardinenkordel.
    »Viel zu steif«, kreischte Olga, »hol Paketband oder eine Wäscheleine!«
    Als Annette mit einem feingewebten Kaschmirschal aus der Garderobe kam, zog sich Olga gerade die Strumpfhose aus. Achim jaulte auf, weil sie seine Füße mit dem Halstuch fest zusammenzurrte und mit den Strumpfhosen seine Handgelenke. Bedauerlicherweise konnte Annette ihr nicht dabei helfen; aber als Achim stramm verschnürt war, fiel sie ihrer Freundin um den Hals.
    Sie schluchzten, stotterten, stammelten.
    Wieso sie überhaupt noch hier sei? fragte Annette ihren Schutzengel und japste nach Luft.
    Olga zog ein halb stolzes, halb verlegenes Gesicht. Zuerst habe sie nur in Ruhe ihren Wein austrinken wollen, aber dann habe man ihr eine so spannende Performance geboten, daß sie wie gebannt in ihrer Loge sitzen blieb und durch den Spalt spähte. Und als Annette ihr dann dieses Teufelsding direkt in die Hände gespielt habe, hätte sie einfach auf den Übeltäter gezielt und kräftig
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