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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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trotzdem nicht zurückgerufen. Es mochte daran liegen, daß er über den Tod seiner Mutter bereits Bescheid wußte und nicht damit fertig wurde. Doch wer konnte ihn informiert haben? Paul hatte angedeutet, daß er sich mit dem Schulfreund seines Bruders getroffen hatte; es war immerhin möglich, daß dieser Simon inzwischen mit Achim gesprochen hatte.
    Einen Moment lang erwog Annette, ihm eingehender auf den Zahn zu fühlen. Sie konnte beispielsweise Details von Frau Ziesels schrecklicher Entdeckung preisgeben und Achims Reaktion genau im Auge behalten. Aus Angst vor seiner Unberechenbarkeit hielt sie aber doch lieber den Mund und wartete auf Verstärkung. Sie war so fahrig, daß ein Schluck Cognac nötig wurde.
    Auch Achim wirkte unruhig. »Wo sind meine Schuhe?« fragte er und sah sich suchend um.
    Vielleicht will er ja abhauen, hoffte Annette, aber er gierte bloß nach seinen Zigaretten; da er ohne seine Jacke zum Auto ging, würde er jeden Moment zurück sein. Am liebsten hätte Annette den unheimlichen Asylanten kurzerhand ausgesperrt.
    Um den Moment des Alleinseins zu nutzen, versuchte sie erneut, Paul zu erreichen, und hatte abermals keinen Erfolg. Außerdem hielt sie es für keine schlechte Idee, den Elektroschocker in aller Eile unter ein Sesselpolster zu stopfen. Kaum saß sie wieder auf ihrem Platz, als Achim mit einer brennenden Zigarette hereinkam. Allerdings rauchte er nur wenige hastige Züge.
    »Es ist alles so furchtbar, ich kann es einfach nicht begreifen«, jammerte er und drückte die Kippe aus. »Halt mich noch mal ganz fest, Kleines! Vielleicht bist du die einzige, die mir helfen kann.«
    Um ihm seinen Willen zu lassen, legte Annette etwas lasch den Arm um seine Schulter und war nicht weiter überrascht, daß er sich von neuem wie ein Äffchen an sie klammerte.
    »Als ich noch sehr jung war, wurden meine Eltern von einer Lawine verschüttet«, sagte Annette, »ich weiß genau, wie furchtbar so etwas ist. Deswegen tust du mir auch von Herzen leid, und ich kann gut verstehen, daß man die Falten am liebsten verdrängen möchte.«
    Achim schluchzte auf, und sie ließ ihre Finger besänftigend durch sein Haar gleiten.
    Allmählich gelang es Annette, ihre Gedanken zu ordnen. Irgendwann sollte der Junge mit dem Geflenne aufhören und ihr Rede und Antwort stehen. Sie nahm sich vor, etwas mehr Härte zu zeigen.
    »So wie die Dinge liegen, kann ich dir kaum helfen«, begann sie und scheuchte die lästige Fliege fort, »wie soll man dein Verhalten verstehen, wenn du nie die Wahrheit sagst? Als du hierherkamst, hast du munter Tee gekocht und so getan, als hättest du keine Ahnung vom Tod deiner Mutter. Dabei hast du zu diesem Zeitpunkt bereits gewußt, daß sie ertrunken ist, aber ganz bestimmt nicht von mir. Also sag endlich, wie es wirklich war!«
    »Wenn du unbedingt darauf bestehst«, flüsterte er in ihre nasse Halskuhle hinein, »dann sollst du es jetzt wissen. Aber fall bitte nicht in Ohnmacht. Ich habe Papa und Mama umgebracht.«
    Jetzt gehen die Nerven mit ihm durch, befürchtete Annette. Als hätte sie ein Riesenbaby im Arm, klopfte sie rhythmisch mit der flachen Hand auf Achims Rücken und summte dabei ein Wiegenlied.
    »An deiner Stelle fiele es mir auch schwer, einen klaren Kopf zu behalten, aber du mußt es trotzdem versuchen und dich nicht für das Leiden der ganzen Welt verantwortlich fühlen«, sagte sie nach einer Weile. »Dein Vater starb nach zwei Schlaganfällen, und deine Mutter hatte einen Unfall, das sind die Tatsachen. Natürlich macht sich auch Paul Vorwürfe, daß wir sie nach der Beerdigung allein gelassen haben, aber von Schuld kann doch keine Rede sein! Niemand will einem geliebten Menschen absichtlich schaden.«
    »Doch!« schluchzte Achim.
    »Eia popeia«, sang Annette tapfer und versuchte krampfhaft, ihn durch übertriebenes Getue zu belustigen und in die Wirklichkeit zurückzuholen.
    Eia, popeia, schlag’s Gickelche dot,
    ’s legt ma kei Eier und frißt ma mei Brot.
    Unglücklicherweise reagierte Achim völlig humorlos auf die Lächerlichkeit der Situation und krallte sich nur enger an ihren Busen. Es gelang Annette nicht mehr, ihn auf Distanz zu halten. Nur mit aller Kraft konnte sie seine schmerzhafte Umklammerung ein wenig lockern. »Du preßt mir ja vor lauter Liebe den Atem ab«, sagte sie mit deutlicher Ironie.
    Ihr spöttischer Ton war wohl der Auslöser für das Kippen seiner Larmoyanz.
    Achim ließ los und sprang mit einem Ruck in die Höhe. »Mach dich nur
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