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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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draufgedrückt.
    »Ich hab’ leider nicht kapiert, wie man damit umgeht«, sagte Annette, »aber du scheinst ja Übung zu haben!«
    »Ich bin wohl ein Naturtalent«, behauptete Olga, »aber schau mal an, er beginnt zu zappeln. Dein Tüchlein wird auf die Dauer nicht standhalten!«
    Annette lief ins Schlafzimmer und zerrte einen ganzen Berg ausgeleierter Strumpfhosen aus ihrer Kommode, damit Olga die Fesselung an allen Ecken und Enden verstärken konnte.
    Als Achim die Augen aufschlug, fühlte ihm Olga den Puls. »Junge«, fuhr sie ihn an, »schämst du dich gar nicht? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mit einem Schlachtermesser auf die kleine Annette loszugehen?«
    Ihre lauten Worte schienen ihn zu quälen, denn er schloß sofort wieder die Augen und stellte sich tot.
    »Komm, Schätzchen«, sagte Olga zu ihrer blassen Freundin, »du brauchst unbedingt eine Stärkung. Wir lassen uns jetzt ganz gemütlich vollaufen und den Bub im eigenen Saft schmoren! Nimmt er Drogen?«
    Annette schüttelte den Kopf und verließ das Schlachtfeld. Vollkommen erschöpft plumpsten beide auf zwei gelbe Küchenstühle; die Durchreiche mit Aussicht auf den Gefangenen blieb offen.
    Ganz gegen ihre Gewohnheit kippte Annette ein großes Glas Rotwein hinunter.
    Olga öffnete gleich die nächste Flasche. »Was gedenkst du, mit diesem Gentleman anzustellen?« fragte sie. »Soll ich bei der Streife anrufen, damit sie ihn einkassieren? Ich kann bezeugen, daß er dich bedroht hat. Rühr bloß das Messer nicht an, die brauchen seine Fingerabdrücke!«
    Sie verstehe gar nicht, wo Paul bleibe, sagte Annette, denn die Entscheidung wollte sie ihm überlassen: Polizei oder Psychiatrie?
    Beide Frauen tranken auch das zweite Glas zügig aus, aber der Alkohol führte nur zu einer geringfügigen Entspannung.
    Eigentlich wollte sie Paul heute nicht über den Weg laufen, überlegte Olga, aber schließlich konnte sie ihre Freundin schlecht mit einem potentiellen Mörder allein lassen.
    Annette spähte durch die Luke und empfand sowohl Haß als auch einen Anflug von Erbarmen. »Man sollte ihm ein Kissen unter den Kopf schieben«, murmelte sie, aber Olga war dagegen.
    Erst gegen acht kam Paul nach Hause. Leicht betrunken stürzte ihm Annette bereits am Eingang entgegen, verlor einen Pantoffel und begann hemmungslos in seinen Armen zu weinen.
    Olga stand auf, rief: »Alla, tschüs!« und verschwand.
    Es dauerte relativ lange, bis der verwirrte Paul die verworrene Schilderung halbwegs begriff. Achim habe Annette bedroht. Zum Beweis der Anklage führte sie ihren Mann ins Wohnzimmer; eingesponnen in einen merkwürdigen Kokon aus hellbraunem und schwarzem Gewirk lag sein Bruder am Boden und sah apathisch an die Decke.
    »Laß mich mit ihm allein«, bat Paul, griff nach der Cognacflasche und wischte sich mit dem Seidenkissen den Schweiß ab.
    Als Annette den Raum verlassen hatte, nahm er neben seinem Bruder auf dem Teppich Platz. Achim fing sofort an zu jammern, er könne sich nicht aufrichten. Widerwillig schleifte Paul die Mumie ein Stück vor, zog ihren Oberkörper hoch und lehnte sie gegen die Wand.
    »Auch einen Schluck?« fragte er, setzte dem Bruder das Glas an die Lippen und holte sogar ein Schälchen mit Nüssen.
    »Weißt du noch, wie du einen Nußknacker erfunden hattest?« fragte Achim. Um noch eine kleine Galgenfrist herauszuschinden, ließ ihn Paul erzählen. Die Idee war genial, in die untere Ecke des Türrahmens eine Nuß zu klemmen und dann die Tür zuzuschlagen. Leider war ihnen der Vater bald auf die Schliche gekommen, weil man immerzu auf verstreute Schalen trat.
    »Auch die Cola-Flaschen konntest du mit dem Türverschluß öffnen«, sagte Achim voller Bewunderung.
    »Das war alles nicht meine Erfindung«, berichtigte Paul, »ich hab’ es meinem Freund Robert abgeguckt.« Aber es sei jetzt nicht der Moment, in Nostalgie zu schwelgen und von harmlosen Kinderstreichen zu schwärmen. Wohl oder übel müsse sich Achim bald der Polizei stellen, denn man suche ihn bereits. Unter der Bedingung, daß er jetzt die ganze Wahrheit erführe, wollte sich Paul für seinen Bruder einsetzen und ihn auch vor Gericht verteidigen.
    Es war lange sehr still. »Zunächst will ich wissen, ob du mich jemals ein bißchen gern gehabt hast«, murmelte Achim kaum verständlich.
    Paul mußte mehrmals schlucken, bevor er zu einer Liebeserklärung ansetzte: »Als man mir mit vier Jahren sagte, daß ich jetzt einen kleinen Bruder hätte, war ich vor Glück ganz aus dem
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