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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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»Sagen Sie Ihrem Mann bitte Bescheid, daß ich zwei Möglichkeiten durchgerechnet habe, einmal für das Alhambra Palace und alternativ für das Hyatt. Er müßte sich allerdings bald entscheiden.«
    Annette holte tief Luft. »Wahrscheinlich haben Sie mir jetzt ein Geheimnis verraten«, sagte sie geistesgegenwärtig. »Ich nehme an, daß mich mein Mann mit dieser Reise überraschen wollte.«
    Die Geschäftsfrau war außer sich, daß ihr ein solcher Fauxpas unterlaufen war, und bedauerte das Mißgeschick ausdrücklich.
    »So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte Annette. »Wir tun einfach beide so, als ob dieses Gespräch nicht stattgefunden hätte. Eigentlich wollte ich meinen Mann ebenfalls mit einer Reise beglücken, aber das hat sich nun erübrigt.«
    Annette erfuhr zu guter Letzt noch, daß er den exklusiven Parador direkt neben der Alhambra bevorzuge, sich aber noch nicht definitiv entschlossen habe.
    Auf Pauls Konto war ja meistens nicht viel zu holen, dachte sie, vermutlich mußte Olga diese Reise bezahlen. Annette huschte in Pauls Arbeitszimmer, um seine elektronische Post erneut zu kontrollieren. Als sie die verschickten E-Mails durchging, wurde die Spur heiß. Ein kurzer Gruß von heute morgen lautete: Liebe Olga, ging ja noch mal gut ... freu’ mich auf Granada! Much love, Dein Jean Paul.
    Annette zuckte zusammen. Also hatte Olga bereits erreicht, daß Pauls Mutter nicht mehr die einzige war, die ihn mit seinem poetischen Namen ansprechen durfte.
    Ihr habt die Rechnung ohne den Wirt gemacht, dachte sie in unbändigem Zorn. Und wenn sie eine Zeitbombe in Pauls ledernen Kulturbeutel schmuggelte? Stichwort Granada! Im Spanischen hieß Granada zwar Granatapfel, aber auch Granate.
    Als sie wieder im Bett lag, mußte sie ständig an jene an-dalusische Osterprozession denken. Damals hatten sie sich unermüdlich an die Straße gestellt, um das traditionsreiche Schauspiel an allen Tagen der Karwoche zu verfolgen. Wie auf überdimensionalen Tabletts trugen starke Burschen nicht nur die geschnitzten Heiligen durch die
    Gassen, sondern auch komplette Abendmahl- oder Kreuzigungsszenen, eine Pietà oder Madonna mit Kind, jedes einzelne Tableau mit Hunderten von Blumen geschmückt. Von den jugendlichen Trägern waren nur die frisch geweißten Turnschuhe zu sehen. Der Anblick erinnerte an einen Tausendfüßler. Nur in gelegentlichen Pausen schlüpften die Athleten kurz unter ihrer Last hervor, setzten die Bürde ab und wischten sich den Schweiß vom handtuchumwickelten Kopf, manche rauchten auch hastig eine Zigarette. Unter dem Beifall des Publikums wurde nach kurzer Rast wieder aufgebockt, und die Prozession schwankte weiter. Zum Gefolge gehörten in schwarze Spitze gekleidete Frauen und vermummte Gestalten im Büßergewand. Fast wie ein mittelalterlicher Pestumzug, hatte Paul gesagt, denn die reuigen Sünder hatten hohe Tüten mit zwei Gucklöchern über den Kopf gestülpt und glichen auf beklemmende Weise den Teilnehmern eines Femegerichts. Annette entdeckte, daß manche Büßer unter ihrem Zuckerhut eine Brille trugen, andere barfuß unterwegs waren, aber selbst Bekannte oder Verwandte konnten schwerlich erkennen, wer sich unter den Kutten verbarg.
    Und schon sah sie sich in einem Tagtraum als andalusi-sche Büßerin, die in der Menge untertauchte und unerkannt ihren Mann mit seiner Geliebten verfolgte, schließlich den Revolver aus ihrem Gewand zog und alle beide erschoß. Pauls Entscheidung für einen so teuren Parador hatte Annette ins Herz getroffen, denn bei gemeinsamen Urlaubsfahrten hatte er stets einfache Hotels vorgezogen.
    Quark für die Welt
    Annette schlief bis zum Mittag.
    Zu ihrem Erstaunen rief Paul an und fragte, wie es ihr gehe.
    »Miserabel«, sagte Annette.
    Ob er etwas für sie tun könne?
    »Nichts«, hauchte sie.
    Im Badezimmerschränkchen sollte noch Aspirin sein, meinte er fast besorgt, ob er einen Arzt rufen müsse?
    Er solle sie am besten ganz in Ruhe lassen, sagte Annette.
    Ihr Mann schwieg, dann wünschte er: »Hoffentlich geht es dir bis Gründonnerstag wieder gut ...«
    Also daher weht der Wind, dachte Annette. Wenn ich ernsthaft krank würde, könnte er nicht in die Flitterwochen fahren. Daher behauptete sie mit matter Stimme, sie würde ihre Reise wahrscheinlich absagen müssen, und legte den Hörer auf. Mit Genugtuung stellte sie sich vor, wie sie alle seine Pläne durchkreuzte.
    Als es an der Haustür klingelte, zog Annette den Bademantel über und öffnete.
    Markus stand vor
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